Programm Sachbuch
Nada
1
Meine liebe Mama,
diese Woche warte ich nicht erst bis zum Samstag, um Dir zu schreiben, weil ich Dir einiges zu erzählen habe, oh, là, là!!! Wir, also unsere Einheit, waren das nämlich, die die Anarchisten geschnappt haben, die den Botschafter der Vereinigten Staaten gekidnappt hatten. Ich will Dir aber lieber gleich sagen, daß ich persönlich nicht einen einzigen getötet habe. Das stelle ich hier klar, weil ich ja weiß, daß Dich das verdrißen dich zu verdrießen Du darüber ziemlich verdrossen wärst, meine kleine Mama. Trotzdem sage ich noch mal, daß das etwas ist, das wir ohne Schwäche ins Auge fassen müssen, falls wir eines Tages gezwungen sind, den Staat mit Gewalt zu verteidigen. Die Wange hinhalten ist ja gut und schön, aber was willst du machen, wenn dir Leute gegenüberstehen, die alles zerstören wollen, das frage ich Dich. Unser guter Pater Castagnac ist da ziemlich meiner Meinung (wir haben uns nämlich noch neulich an dem Sonntag, an dem ich nach der Messe gekommen bin, eingehend mit der Frage befaßt). Sein Standpunkt ist folgender: Wenn die Polizisten nämlich nicht wie ich zu allem bereit sind, dann gibt es doch überhaupt keinen Grund, daß sich gewisse Individuen nicht alles Mögliche erlauben, und das ist auch mein Standpunkt. Ganz im Ernst, kleine Mama, hättest Du gern ein Land ohne Polizei? Würdest Du wollen, daß der Sohn vom alten Barquignat (ich nehme den jetzt nur so als Beispiel) freie Bahn hätte, mit seinen lüsternen Händen über Deine Tochter herzufallen, die auch meine Schwester ist? Würdest Du wollen, daß sich Gleichmacher und solche Elemente, die alles teilen wollen, auf unser mühsam Zusammengespartes in einer Orgie der Zerstörung stürzen? Ich sag ja nicht, daß im Dorf nicht die Mehrheit der Einwohner brave Leute sind, aber trotzdem, schon in unserer kleinen ländlichen Gemeinschaft, wenn man nicht wüßte, daß es eine Polizei gibt, und daß die wenn nötig auch schießt, dann weiß ich bereits einige, die sich nicht zurückhalten würden, von den Zigeunern gar nicht zu reden.
Auf alle Fälle habe ich gestern nur getan, was mir befohlen wurde. Ich war mit François zusammen, von dem ich Dir schon erzählt habe, und wir haben ziemlich viel gefeuert, aber ohne Erfolg. Schließlich sind andere Ordnungskräfte von der anderen Seite des Gebäudes her in die Räumlichkeiten eingedrungen und konnten diese Individuen niederstrecken. Auf diese blutige Schlachterei, die einem den Magen umdreht, gehe ich nicht näher ein. François bedauert, daß er keinen dieser Anarchisten zu fassen bekommen hat, um ihn eigenhändig umzubringen. So weit gehe ich persönlich nicht, aber ich respektiere seinen Standpunkt.
Das ist jetzt aber ein ziemlich langer Brief geworden, und ich weiß nicht mehr, was ich Dir noch schreiben soll. Daher höre ich für heute auf. Umarme den Vater von mir, wie auch Nadège. Ich drücke Dich an mein klopfendes Herz.
Dein dich liebender Sohn,
Georges Poustacrouille
PS: Könntest Du mir, wenn es Dir keine Mühe macht, den «Quietsch-Camembert» schicken, weil ich den nämlich bräuchte, da wir den Unteroffizier Sanchez wegen seiner neuen Streifen mit einem Fest überraschen wollen. Dank Dir im voraus.
2
Épaulard parkte seinen Cadillac halb auf dem Gehsteig und ging dann die Straße hinauf bis zum Pissoir an der Ecke Mosquée und Jardin des Plantes, wo er sich erleichterte. Anschließend machte er wieder kehrt und zündete sich im Gehen eine Française Filter an. Épaulard, ein großer hagerer Mann, hatte die Visage eines Militärarztes, stahlgraues Haar, Bürstenschnitt, er trug einen kittfarbenen Regenmantel mit Schulterklappen. Er betrat eine Weinhandlung mit Ausschank und bestellte einen Sancerre, den er sich schmecken ließ. Mal abgesehen davon, daß man nicht mehr besonders viele Geschmacksnerven besitzt, wenn man sechzig Zigaretten am Tag raucht.
Es war fünf nach zwölf. D’Arcy war spät dran. Im selben Moment betrat der junge Mann den Schankraum. Er klopfte dem kittfarbenen Regenmantel mit der flachen Hand auf die Schulter.
«Ciao.»
«Salut.»
«Ich hab um zwei eine Verabredung und noch nichts gegessen. Steht dein Auto in der Nähe?»
«Gegenüber», meinte Épaulard, während er zahlte.
Sie überquerten die Straße. Unter dem Scheibenwischer des Cadillac steckte schon ein Strafzettel. Épaulard warf ihn in den Rinnstein. Sie stiegen in den weißen, schlammbespritzten Wagen.
«Bist du schon lange wieder in Frankreich?» fragte D’Arcy.
«Seit drei Wochen.»
«Hast du irgendeinen von den Jungs wiedergesehen?»
«Nein, keinen.»
«Was machst du zur Zeit?»
Während des Gesprächs hatte D’Arcy das Handschuhfach geöffnet und kramte darin herum.
«Im Seitenfach», sagte Épaulard.
D’Arcy griff hinein, fischte einen silbernen Flachmann hervor und trank direkt daraus. Er hatte ein rotes Gesicht und schwitzte. Immer noch genauso versoffen, dachte Épaulard. Als D’Arcy zu Ende getrunken hatte, steckte der fünfzigjährige Épaulard den Flachmann wieder weg. Darauf eingraviert war ein Vogel, der gerade eine Schlange verputzte, und ein Motto in schwülstigen Lettern: Salud y pesetas y tiempo para gustarlos.
«Du warst also in Mexiko», bemerkte D’Arcy.
«Ich war so ziemlich überall. Algerien, Guinea, Mexiko.»
«Und Kuba.»
«Ja, Kuba.»
«Sie haben dich rausgeschmissen», sagte D’Arcy.
Épaulard nickte.
«Und was machst du zur Zeit?» wiederholte D’Arcy.
«Du gehst mir langsam auf den Wecker», erwiderte Épaulard. «Was willst du eigentlich von mir?»
«Ein paar Genossen und ich», erwiderte D’Arcy, «bräuchten einen Fachmann.»
«Fachmann für was? Ich bin Fachmann für einen Haufen Sachen.»
«Die bewußten Genossen und ich werden uns den Botschafter der Vereinigten Staaten in Frankreich kaufen», sagte D’Arcy.
Épaulard stieg aus dem Auto und knallte heftig die Tür zu. Er überquerte erneut die Straße. D’Arcy lief hinter ihm her. Es begann zu nieseln: ein garstiger kalter und feiner Regen.
«Mach keinen Scheiß», rief der Alkoholiker. «Ich hab dir doch noch gar nicht alles erklärt.»
«Ich will gar nicht mehr darüber hören. Verpiß dich!»
Épaulard ging zurück in den Weinausschank und bestellte sich einen weiteren Sancerre. D’Arcy blieb unglücklich dreinblickend auf der Türschwelle stehen.
«Ach, leck mich doch am Arsch», sagte er schließlich und verschwand.
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