Programm Kriminalromane

Wüstenstaub

Diez, Rolo

 

 

Die Luft ist rot; jemand ist verrückt geworden; ich bin frei. Der Lauf meiner Pistole verleiht mir die Macht, den Kommandanten anzuspornen, das bestellte Bier schneller zu bringen. Ich treibe ihn an: «Los, schneller, du Ochse!» und sehe, wie er mit einem Tablett voller Flaschen herbeieilt. Lourdes, Gloria und Rosario schenken mir ein verliebtes Lächeln; Quasimodo ist ein unerschütterliches Gila-Krustenechsen-Monster. «Schenken Sie meinen Frauen und meinem Freund ein», sage ich, und der Kommandant befolgt meine Anweisungen dienstbeflissen. «Jetzt schenken Sie mir ein.» Als er fertig ist, bringe ich ihn mit knapp neben seinen Schuhen plazierten Schüssen zum Tanzen. Alle lachen und klatschen Beifall; ich bin glücklich.
«Hernández!» Auf unangenehme Art und Weise schmuggeln sich einige Büromöbel, die von verhaßten Gestalten und Tönen umgeben sind, in die Landschaft. «Gib mir mein Bier, Lourdes», sage ich und höre, wie sie auflachen. «Er schläft.» «Der schläft doch immer.» «Schüttet ihm einen Eimer Wasser über den Kopf!» Das ist nicht nötig. Hernández ist wieder zu sich gekommen und in der Lage, den schlimmsten Ort des Urwalds wiederzuerkennen.
Ich öffnete ein Auge. Angesichts des Spektakels, das sich mir dann bot, bekam ich Lust, es für immer zu schließen. Da waren sie alle, um mich anzuglotzen. Silberpfeil, Maribel, Laura und – das fehlte gerade noch! – der Zirkusbesitzer, das erlauchte Oberhaupt der Sterblichen, die – Rätsel des Budgets – auf den Gehaltslisten der Operativen Beziehungen stehen.
«Sind Sie endlich wach, Hernández?»
«Ich bin es immer gewesen, Chef», versicherte ich, während ich den Kopf vom Schreibtisch hob und den Knoten meiner Krawatte überprüfte.
Der Kommandant forderte mich auf, ihm in sein Amtszimmer zu folgen; nur auf diese Weise konnten wir uns den Heerscharen von Klatschmäulern entziehen, die uns angafften und immer größer wurden, da noch zwei Polizei¬offiziere und die Putzfrau ihre Köpfe zur Tür hereinstreckten, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Kaum hatte der Chef die Tür seines Dienstzimmers geschlossen, bot er mir eine Zigarette an, und da ich ihn kannte, ließ mich diese Geste sofort mißtrauisch werden.
«Sie gehen auf Dienstreise, Offizier.»
«...»
«Bereiten Sie sich darauf vor, nach Tijuana zu fliegen.»
«Worum geht es denn, Chef?»
«Ein delikater Fall, Hernández. Wir müssen eine Leiche nach Tijuana überführen. Es gab da eine dieser Partys, Sie wissen schon, was ich meine. Einer jungen Frau bekam die Mischung bestimmter Substanzen, die sie dort eingenommen hatte, nicht gut, sie kollabierte und ist gestorben. Angesehene Leute verlangen höchste Diskretion. Wir werden den Körper den Behörden von Tijuana übergeben, damit das Mädchen, das aus dieser Stadt stammt, zu Hause irgendeines natürlichen Todes sterben kann. Der Befehl von oben lautet, die Operativen Beziehungen sollen die Auf-gabe übernehmen, wir, die Besten. Und der Geeignetste unter den besten OBs sind Sie.»
Die Arbeit des Kommandanten besteht darin, mein Leben zu ruinieren. Und um die Wahrheit zu sagen, er macht sie gut. Er kann einen Teller voller Müll so präsentieren, als wäre es die letzte Schöpfung der Nouvelle Cuisine. Die junge Frau hat etwas geschluckt, was ihr nicht gut bekommen ist, wir müssen diskret sein, einen Körper überführen, Sie sind der Beste, Sie müßten für die Ehre dankbar sein, die Ihnen zuteil wird, und so weiter. Das Unangenehme ist, daß ich ihm offenbar tatsächlich dankbar sein muß, denn niemand in der Truppe hat vergessen, daß vor nicht allzu langer Zeit – für einige war es wie gestern – Hernández bestimmte Geschichten, die er hatte «schlucken» müssen, nicht bekommen waren, ihm dann eine Kugel das Gehirn gestreift hatte, und er, seiner selbst und allem anderen überdrüssig, seinem Chef eine Pistole an den Kopf gesetzt hatte. Ein Frevel, der mich – so wie unser System funktioniert – bis in alle Ewigkeit dazu zwingt, jeden Müll zu schlucken, den der Kommandant mir auftischt, und ihn als Köstlichkeit seiner Cuisine zu feiern.
Was die Beziehungen zwischen Offizier und Kommandant anbelangt, die aus dieser derart ungewöhnlichen Rebellion hervorgegangen sind, so waren die Resultate unterschiedlich. Im Grunde ist das alte Ausbeutungsverhältnis Chef-Angestellter geblieben, aber die Form hat sich verändert: um ein unpersönliches und distanziertes Verhältnis bemüht, duzt mich der verdiente Mann seitdem nicht mehr.
Ich hatte in Tijuana nichts verloren. Ich war hier vollkommen damit ausgelastet, zwei Familien zu ernähren und für die Sicherheit der Einwohner von Mexiko-City zu sorgen. Ich dache nicht daran, dort hinzufahren. Ich würde das dem Kommandanten klar machen.
Eine halbe Stunde später war ich im Keller der Dienststelle mit einem Sarg konfrontiert, einem Umschlag mit ein paar Schmuckstücken, persönlichem Krimskrams, dem Ausweis des toten Mädchens sowie meinem Flugticket nach Tijuana und einem Berechtigungspapier zur Verladung eines «Sonderobjektes» in den Frachtraum des Flugzeugs.
«Sie reisen heute nacht», hat der Oberbefehlshaber gesagt. «Wir bringen die Ladung an den Flughafen, Sie übergeben sie morgen früh, und morgen mittag sind Sie wieder zurück.»
Im Büro setzten alle eine Top-Secret-Miene auf und taten so, als wären sie von der Mission begeistert. Maribel, die Nymphomanin aus Veracruz, schnalzte mit ihrer langen Zunge: «Was wirst du heute nacht nicht alles in Tijuana anstellen, du Schuft!... Nimmst du mich mit?» Silberpfeil, der einzige bekannte Officeboy, der mit neunzehn Jahren unter Alzheimer leidet, unterbrach das Gemetzel an seiner Torta Cubana, um mich an einen Roman mit dem Titel Ein Sarg für Hongkong zu erinnern und mich zu fragen, ob ich nicht die Rache der Verwandten der Leiche fürchte. Dieses bisher von keinem erwähnte Detail ließ in mir einen Verdacht aufkommen: Silberpfeil war manchmal doch nicht so blöd, wie er aussieht. Sogar Laura fragte, was ich ihr von der Grenze mitbringen würde. Ich bot ihr einen illegalen Immigranten an, der sechs Jahre lang den Geruch einer Frau entbehren mußte, obwohl es für den armen Kerl besser wäre, wenn er der Einwanderungsbehörde in die Hände fallen würde.
Ich nahm Silberpfeil zur Seite und befahl ihm, eine Einwegkamera zu kaufen. Er schaute mich argwöhnisch an, wie üblich, wenn ich ihn um etwas bitte, aber ich war nicht in der Stimmung, mit einem geistig zurückgebliebenen Jugendlichen zu diskutieren. So drückte ich ihm einen 100-Peso-Schein in die Hand und sagte zu ihm: «Das Wechselgeld ist für dich, beeil dich, ich warte hier auf dich, mach mir aber ja keinen Ärger, sonst polier ich dir die Fresse.» Als er hinausging, wirkte er nicht mehr ganz so unzufrieden.
Ich rief Gloria an und organisierte einen Besuch: «In zehn Minuten bin ich bei dir.» Sie flüsterte: «Von sechs bis sieben sind die Kinder außer Haus», und ich wußte, was mich erwartete. Ich rief Lourdes an, informierte sie über die Dienstreise, ertrug ihr krankhaftes Mißtrauen und versprach, um halb acht zum Abendessen zu Hause zu sein. Zwei Frauen, die von ihrem Mann verlangen, daß er sich anderen Frauen gegenüber wie Josef der Keusche verhält und ihnen selbst gegenüber wie eine bessere Mischung aus Casanova und Staatssekretär für Soziales, der ihnen hilft, das Leben zu organisieren.
Bevor ich das Gebäude verließ, ging ich noch einmal in den Keller zu dem «Sonderobjekt».

Zwei Liebesrunden später ging ich mit schmerzenden Lenden und mich fragend, was in zehn Jahren aus mir werden würde, mit einem Koffer in der Hand und bekleidet mit meinem dunkelsten Anzug zum Flughafen. (Gloria hatte mir ihre Rolle als Nebenfrau verziehen – immer wenn ich die Frau aus Puebla sehe, ist es, als ob ich verurteilt würde, weil ich mich Jahre zuvor mit Lourdes verheiratet habe –, und Lourdes hat mir meine Reise verziehen – dank einiger Dollarblüten, die als Beweismaterial im Rahmen einer Ermittlung beschlagnahmt und danach abgezweigt worden waren, damit meine Ehefrau das Schulgeld für die Kinder bezahlen und sich Schuhe kaufen konnte.)
Die Formalitäten waren schnell erledigt. Die Kooperation eines Flughafenpolypen ermöglichte es mir, meine Partnerin Pistole bei dem sogenannten Sonderobjekt zu deponieren. Bevor ich an Bord ging, überwachte ich die Verladung beider in den Bauch des Flugzeugs. Ich rief Quasimodo an. Ich erzählte ihm von einer «dieser» Partys, von straflos bleibenden Angebern, von einem toten Flittchen und machte Angaben, die nirgends festgehalten sind, die aber trotzdem mit anderen Informationen, die in einem Archiv auf ihre Chance warten, in Verbindung stehen können. Ich erinnerte ihn daran, daß er, José Miguel Rivas Alcántara, seiner Reize wegen unter dem Namen Quasimodo bekannt, das beste Archiv der Stadt, das heißt des Landes, verwalte, aber daß ein gutes Archiv sich dadurch auszeichne, daß es für seinen Besitzer arbeitete. «Laß uns doch mal sehen», sagte ich zu ihm, «ob du etwas findest, wer weiß, vielleicht stoßen wir auf den Schatz des Ali Baba.» Ich hielt seinen üblichen Einwänden – «Red keinen Unsinn, Carlitos; immer suchst du dir Ärger; hast du denn keinen Spaß am Leben?» – das Argument entgegen, daß den Wagemutigen die Zukunft gehört, und legte auf.

 

 

 



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