Programm Allgemeine Belletristik

Die verlorenen Söhne der Sylvie Derijke

Fonteneau, Pascale

 

 

Ich versteh zwar nichts von Kindern, aber selbst ich weiß, daß sie in meinem Flur nichts zu suchen haben. Kinder treiben sich nie allein im Flur eines abgelegenen Hauses herum. Aber mein Haus ist abgelegen, und trotzdem stehen sie in meinem Flur. Zwei Kinder.
Also schließe ich die Tür und öffne sie wieder, doch sie sind noch immer da.
Na gut.
Ich träume nicht. Eigentlich müßte ich allein sein, Philippe ist zu seinem Vater gefahren, Nachbarn hab ich keine, ein Geschäft auch nicht, also nichts, was das Hüsteln, das mich alarmiert hat, gerechtfertigt hätte. Daher auch meine Überraschung, als ich vor genau fünfzehn Sekunden die Tür aufgemacht habe. Ausgerechnet Kinder. Diebe, Strolche oder Schlimmeres, einverstanden, dafür verfügt mein Unterbewußtsein über gewisse Verhaltenscodes – abhauen, schreien, kämpfen... Aber das! Ich muß reagieren. Sylvie, sag was, irgendwas!
«Hi...»
Jeder bleibt an seinem Platz; ich auf der Schwelle zur Küche, wo ich mich an die Tür klammere, und die beiden mitten im Flur, in den trotz der offenstehenden Haustür kaum Licht fällt. Hinter ihnen sehe ich ihre feuchten Fußspuren. Von dort sind sie also gekommen, aber sie haben nicht geantwortet. Sind sie vielleicht nicht echt? Oder man muß sie schütteln oder auf einen Knopf drücken, damit sie sprechen. Als ich klein war, hatte ich so eine Puppe, die ich jedesmal fast umbringen mußte, um ein «Mama, Pipi!» aus ihr herauszubekommen, und selbst dann hörte ich nur etwas, wenn ich mein Ohr auf ihren Bauch drückte. Totaler Beschiß.
Sylvie, du kommst vom Thema ab; erinnere dich, deine Puppe hatte schöne blonde Haare, und nun sieh dir die hier an, sie sind größer, und außerdem sagen männliche Puppen niemals «Mama, Pipi!», nur die Mädchen sagen den ganzen Tag lang solche Albernheiten wie «Mama, Pipi!». Mal ganz abgesehen davon, daß man sie gute drei Minuten lang malträtieren muß, damit sie es überhaupt sagen. Da muß man sich nicht wundern, daß einige männliche Geschöpfe den voreiligen Schluß ziehen können – «und sie verlangt auch noch nach mehr, diese Schlampe» –, dahin ist es wirklich nur ein kleiner Schritt...
So, allmählich jagen die beiden mir aber Angst ein!
«Guten Tag! Was wollt ihr denn? Verkauft ihr etwas?»
Das ist mir so rausgerutscht, unüberlegt, dabei erklärt das doch alles: Sie wollen mir für irgendeine Organisation etwas andrehen. Erleichtert suche ich bereits nach meiner Tasche.
«Na dann, kommt rein (Mist, wo hab ich denn nur meine Tasche abgestellt?), normalerweise kaufe ich ja nie was an der Haustür, aber einmal kann ich ja eine Ausnahme machen, ihr seht so nett aus! (Von wegen, ich hab ihre Gesichter noch gar nicht gesehen, ich weiß nur, daß sie keine einssechzig groß sind. Ach, da ist ja meine Tasche, in der Ecke hinter dem Sessel. Ich bücke mich, heb sie auf und dreh mich um.) Hier, ich geb euch... SCHEISSE!
Jetzt sehe ich sie gut, sie stehen einen halben Meter von mir entfernt genau unter der Lampe. Mit ihrem hübschen Seitenscheitel in ihrem hübschen braunen Haar. Ihren schönen dunkelblauen Anoraks, passend zu den Hosen und Pullovern, unter denen gerade noch die Kragen der hellblauen Hemden hervorlugen. Um sicher zu gehen, werfe ich einen Blick auf ihre Schuhe: Mokassins aus braunem Wildleder. Tatsächlich! Das müssen sie sein: François und Sébastien Walin-Delcreuze, 1,54 und 1,42 Meter, 14 und 12 Jahre alt. Seit zwei Tagen werden wir übers Radio mit ihren Personenbeschreibungen bombardiert, stellen Sie sich vor, eine Entführung! Ein Verbrechen, das vollkommen aus der Mode gekommen ist, und hier passiert’s ganz in unserer Nähe, zwei Kinder auf einmal! Was für eine Reklame für unsere Region! Na ja, nicht unbedingt, aber... Also gut.
«Ihr armen Kleinen! Jetzt verstehe ich, warum ihr nichts sagt, ihr müßt ja vollkommen unter Schock stehen! Setzt euch, ich mach euch eine warme Milch... Nein, zuerst werde ich die Polizei anrufen, also, die Nummer war 18. Nein, 17, nee, ach, Mist, 17 oder 18... äh, aber was machst du denn da?!»
Der größere der Kleinen, François also, hat sich gerade die Schere geschnappt, die auf dem Tisch herumlag (Räum endlich mal auf, Sylvie!), kommt seelenruhig auf mich zu und – ich mach schon die Augen zu – schneidet die Telefonschnur durch! Ich fasse es nicht, die müssen mindestens einen Monat lang in Ketten gelegt worden sein, um so unter Schock zu stehen! Okay, sie sind erst vor drei Tagen entführt worden, aber es gibt Dinge, die zählen doppelt oder sogar vierfach! Und was mach ich jetzt?
Ich sehe sie noch einmal an, bevor ich einen Entschluß fasse: Ich werde sie aufs Polizeirevier bringen. Eine andere Lösung gibt es nicht. Das einzige Problem liegt darin, daß es ein ziemliches Theater geben wird. SYLVIE DERIJKE FINDET DIE WALIN-DELCREUZE-KINDER. Wenn sich alle kriegführenden Parteien auf Erden einsichtig zeigen würden, vor 20 Uhr keinen größeren Angriff zu starten, kann ich zur Spitzenmeldung in den Abendnachrichten werden! Ich werfe einen Blick auf die Uhr in der Küche: 17 Uhr 10. Das ist machbar. Das Gesicht von Philippe möchte ich sehen, wenn der mich vom Bauernhof seines Vaters aus sieht! Muß mich aber trotzdem ein bißchen zurechtmachen. Auf fünf Minuten kommt’s bei den Kindern nicht mehr an. Die werden ihre Eltern schon noch wiedersehen.
«Also gut, ihr bleibt, wo ihr seid, ich bin in einer Minute wieder da.»
Der Große, François, folgt mir in den Flur, aber als er sieht, daß ich die Treppe hochlaufe, geht er zurück und setzt sich mit seinem Bruder hin.
Das blaßlila Kleid oder den Anzug mit der schwarz-wei-ßen Hose? Das Kleid könnte für einen Donnerstag im November zu schick wirken. Der Hosenanzug paßt sehr gut. Im Hinuntergehen ziehe ich die Jacke an.
Die Kinder sind noch in der Küche. Ich wühle in meiner Tasche, um meine Schlüssel und meinen Lippenstift herauszufischen.
«Also los, kommt, ich bring euch hin.»
Ich halt sie fest, jeden an einem Arm, um sie zu führen, aber auch, damit sie nicht abhauen! Nach der Sache mit dem Telefon muß ich auf alles gefaßt sein. Wir gehen vorne herum, ich öffne das große Tor, aber sie zeigen keinerlei Reaktion. Das fällt mir auf, weil normalerweise immer alle erstaunt sind, wenn ich da aufmache. Der Riesenraum, das Durcheinander, der Geruch... Aber sie sagen nichts. Ich lasse sie in mein Auto steigen. Ein R 5, zweitürig, so können sie jedenfalls nicht während der Fahrt hinausspringen. Ich wende auf dem Hof und fahr bis an das geschlossene Gittertor heran. Ich mach es auf, fahr durch und steige dann gleich darauf noch mal aus, um es hinter uns zu schließen.
Die Kinder sagen nichts.
Ich fahre die Straße hinunter, fünfhundert Meter weiter ist eine Polizeidienststelle. Als ich davor anhalte, sieht alles ruhig aus. Ich steige aus und gehe zur Tür hin: «NACH 17 UHR KEINE BEREITSCHAFT, IN DRINGENDEN FÄLLEN WENDEN SIE SICH AN DIE DIENSTSTELLE IN DER RUE ALLENDE». Ich glaub, ich spinne! Wenn Vater Walin-Del-creuze erfährt, daß seine Kinder nicht sofort in Empfang genommen wurden, weil die Dienststelle nicht besetzt war, dann gibt’s Ärger. Zumal Monsieur Walin-Delcreuze einen langen Arm hat. So lang wie ein Streiktag, hätte meine Mutter gesagt. Na ja, ihr Vater hat es immer gesagt, sie selbst hat nie gestreikt, konnte sie wegen meines Vaters und seiner Stellung nicht, aber den Spruch hat sie beibehalten.
Die Kinder hinten sagten nichts.
Ich sage immer «die Kinder», obwohl sie eigentlich schon groß sind, aber im Radio reden die auch immer von «den Kindern», sicher um all die zuhörenden Mütter zu rühren. Wenn sie von «Jugendlichen» berichteten, würde man gleich an Mofas, schwieriges Alter und Aknepickel denken, und dann wäre die Betroffenheit vielleicht nicht ganz so spontan, aber Kinder... die werden von allen bedauert. Selbst wenn es die Kinder der Walin-Delcreuzes sind, denn die Walin-Delcreuzes, die sind hier nicht bei jedermann beliebt. Und das ist noch vornehm ausgedrückt.
Die Rue Allende liegt am anderen Ende der Stadt, und die Stille im Auto ist mir unheimlich. Es läuft mir sogar kalt den Rücken runter, als ob ich befürchten würde, daß sie über mich herfallen. Also schalte ich das Radio ein. Ich summe den neuesten Hit mit, der jäh von dem Sprecher unterbrochen wird: «Wir haben nun genauere Angaben zu dem Flugzeugunglück, das sich gegen 15 Uhr nördlich der Hauptstadt ereignet hat. Es hat sich bestätigt, daß sich in der kleinen Maschine zwei Piloten und vier Passagiere befanden. Der Rettungsdienst, der sofort vor Ort war, konnte leider nur noch den Tod der sechs Insassen feststellen.» Um nichts in der Welt würde ich in ein Flugzeug steigen, schon gar nicht in ein kleines! «Während im Moment keine Angaben über die Unglücksursache gemacht werden können, hat sich jedoch bestätigt, was ich Ihnen in unseren Kurznachrichten um 17 Uhr noch unter Vorbehalt mitgeteilt habe: Bei zwei Passagieren, das steht jetzt fest, handelt es sich in der Tat um die Eheleute Walin-Delcreuze, deren Kinder...» Ich halte auf der Stelle an. Ich hab nicht geträumt. Wenn ich es recht bedenke, dann haben die gerade gemeldet, daß die Walin-Delcreuzes, Vater und Mutter, tot sind. Tot! Die Eltern der lieben Kleinen, die hinten in meinem R 5 sitzen, sind gerade bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen! Ich wage es nicht, mich umzudrehen, daher werfe ich einen Blick in den Rückspiegel. Sie haben überhaupt keine Reaktion gezeigt. Vielleicht haben sie es nicht verstanden, oder sie stehen unter Schock. Was soll ich denn jetzt machen? Plump darauf herumreiten? Wißt ihr, meine lieben Kleinen, euer Papa und eure Mama, also, die sind jetzt im Paradies. Ihr müßt nun ganz tapfer sein, ihr seid jetzt allein, obwohl sie in dieser Familie nie ganz allein sein werden. Waisen zwar, aber frei und sehr reich, na ja, so sagt man jedenfalls.
Schnell komme ich zu dem Schluß, daß das nicht meine Aufgabe ist, und so fahre ich vorsichtig weiter in Richtung Rue Allende. Ich fahre langsam, aus Angst, schon das geringste Ruckeln könne dazu beitragen, daß sie verstehen, was sie gerade gehört haben.
Diese Kinder sind einfach nicht normal, sie müßten brüllen, heulen, «Papaaa, Mamamama...» rufen. Es sei denn, der Schock tritt zeitversetzt ein, sie haben so viel erlebt, daß es einfach zuviel ist, deshalb sollte ich lieber nicht so bummeln, um die Polizeidienststelle zu erreichen, bevor alles aus ihnen herausbricht. Die Rue Allende mündet in den Boulevard, ich biege ab und sehe sofort das dreifarbige Reklameschild. «Legt eure Butterbrote weg, ich komme mit einem erlesenen Dessert!»
Genau gegenüber auf der anderen Straßenseite befindet sich ein kleiner Platz mit drei Parkplätzen. Ich stelle den Wagen ab, erleichtert darüber, schon bald die beiden «armen, kleinen Kinder» loszuwerden. Wie paradox das in ihrem Fall klingt! Ich steige als erste aus und klappe den Sitz vor.
«Kommt, ihr seid jetzt endlich frei, ich bringe euch zur Polizei und die... also, die werden sich um euch kümmern.»
Fast hätte ich gesagt: «Die bringen euch zu euren Eltern!» Paß auf, was du sagst, Sylvie!
Zum ersten Mal hebt der größere der beiden, François, den Blick, sieht mir direkt in die Augen und sagt:
«Nein.»
«Also gut, rührt euch nicht vom Fleck, ich werde sie holen. Ich verstehe schon, ihr habt in letzter Zeit ziemlich viel mitgemacht... Ganz ruhig, ihr braucht keine Angst zu haben.»
«Nein.»
«Okay, okay, kümmert euch um nichts, ich bin gleich wieder da.»
Ich will die Tür schon zumachen.
«Wenn Sie die Behörden informieren, werden wir behaupten, daß Sie für unsere Entführung verantwortlich sind.»
Der Schock, die Ketten und ihr neuer Status als Waisen entschuldigen nicht alles. Und dann noch diese Art, von den «Behörden» zu reden!
Ich beuge mich nach hinten in den R 5 hinein.
«Nun ist es aber mal gut, ich hab nichts zu meinem Telefonkabel und den ganzen Unannehmlichkeiten gesagt, aber es gibt Grenzen. Glaubst du etwa, daß dein Wort mehr zählt als meins? Du rührst dich nicht vom Fleck, ich gehe über die Straße und werde die Flics benachrichtigen (nur eine oberflächliche Reaktion auf die Behörden), die werden euch zu eurer Familie zurückbringen, dich, deinen Bruder und deine kleine pubertäre Krise.»
«Wie Sie wollen. Ich werde denen sagen, daß Sie uns entführt haben, um sich an unserem Vater zu rächen, der Ihrer Ansicht nach für die Schließung der Fabrik Ihrer Familie verantwortlich ist. Sie haben uns in ein drei mal vier Quadratmeter großes Vorzimmer eingesperrt. Im Vorzimmer sind drei Türen, eine davon führt in die Küche, eine andere ins Büro und die dritte in die zur Zeit stillgelegte Fabrik. Vom Büro aus kann man durch eine Fensterreihe in die Fabrik schauen. An der gegenüberliegenden Wand werden die Produktionen von 1867 bis 1975 zusammenfassend dargestellt. Daneben hat jemand handschriftlich festgehalten: ‹Das Leben hängt nur an einem seidenen Faden.›»
Was für Mistkerle!
Ich wette, die sind von Zuhause abgehauen, und als ich oben war, müssen sie die Zeit genutzt haben, um sich im Erdgeschoß umzusehen!
Trotzdem versuche ich, irgendwie zu reagieren.
«Jeder kann in mein Haus und an so eine Information herankommen...»
«Die Walin-Delcreuzes gehen nie zu einfachen Leuten, und jeder wird bestätigen können, daß wir noch nie Kontakt zu Ihnen hatten, Sylvie Derijke.»
Überleg doch mal, Sylvie! Er hat recht, niemand wird dir glauben, er weiß, wie du heißt, wie es in deinem Haus aussieht... Und außerdem hör endlich auf, ständig ins Auto rein und wieder raus zu klettern, damit ziehst du nur die Aufmerksamkeit der Leute auf dich.
«Also gut, ich werde ein Stück weiter fahren, und dann unterhalten wir uns.»
«Es wäre vorzuziehen, wieder zu Ihnen nach Hause zu fahren, denn, wenn uns jemand in Ihrem Auto sieht, könnten Sie Schwierigkeiten bekommen.»
«Ich dachte, daß ihr genau das vorhabt: mir Schwierigkeiten machen.»
«Sie ziehen voreilige Schlüsse!»
Er geht mir auf die Nerven, dieser kleine Arsch! «Sie ziehen voreilige Schlüsse.»
Trotzdem sende ich auf der Rückfahrt Stoßgebete zum Himmel, daß mir kein bekanntes Auto begegnet, kein Fußgänger und kein Vertreter der «Behörden». Erleichtert sehe ich dann auch das himmelblaue Tor, das Unbefugten den Zutritt zur «Fabrik meiner Familie» verwehrt. Wenn mein Vater das hören könnte, wäre er glatt in der Lage, stolz darauf zu sein. Meine Mutter, soviel ist sicher, bekäme einen Anfall!
Zurück in der Küche, läßt der Anblick des jämmerlich herunterhängenden Telefonkabels meinen Blutdruck steigen. Ich drehe mich wütend um und schaue in die Engelsgesichter dieser kleinen Waisen, die artig auf meinen Resopalstühlen sitzen.
Um die Truppen zu spalten, wende ich mich an den Kleineren:
«Mein kleiner Sébastien, ich weiß nicht, was euch in diesen letzten Stunden zugestoßen ist (und das ist mir sogar ziemlich egal, auch wenn ich es nicht sage), aber wenn ihr nicht zur Polizei wollt, dann kann ich euch auch direkt zu euch nach Hause bringen...»
Er macht tatsächlich den Mund auf!
«Ich heiße Odysseus und das ist Homer.»
Scheiiiße!



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