Programm Sachbuch

Makabre Machenschaften am Boul' Mich'

Malet, Léo

 

 

IM CHEZ COLIN DES CAYEUX... UND ANDERNORTS

Draußen kam ich wieder in den Schnee. Ein starker Wind wirbelte die Flocken umher. Der Flic in Uniform, der vor dem Portal der Nr. 36 vorschriftsmäßig frische Luft schöpfte, schüttelte seinen Umhang, um einen sich immer erneuernden feinen, glitzernden Film abzuschütteln. Die dunklen Stämme der Kastanienbäume der Uferböschung ragten über die Brüstung am Kai, und in den Gabelungen der kahlen Äste bildeten sich weiße Tupfer wie aus Watte. Am anderen Seine-Ufer erstrahlte die Rôtisserie Périgourdine in warmem Licht.
Ich machte einen Schritt auf meinen Wagen zu, den ich ein Stück weiter entfernt nahe dem Place Dauphine geparkt hatte, überlegte es mir dann aber anders. Nach dem Besuch bei der Polizei würde mir ein kleiner Spaziergang gut tun. Über die Pont Saint-Michel erreichte ich den Platz des gleichen Namens.
Es war fast acht, und die Klingel des Kinos neben der Taverne du Palais, das ich seit Ewigkeiten kannte, rief die Zuschauer mit dünnem Ton in den Saal. Über den leeren Becken des Brunnens Saint-Michel reckte sich der Chef der himmlischen Heerscharen – im Auftrag Gottes zuständig für Vertrauen und Donnerwetter aller Art – empor und streckte hinter einem wogenden Vorhang aus weißen Tüpfelchen noch immer den Drachen nieder. Auf den Schutzgittern am Fuß der Bäume blieb der Schnee liegen, schien sich daran zu schmiegen. Vor dem Zeitungskiosk boten drei Schwarze den Temperaturen mit Verachtung die Stirn, so als würden sie das Wetter zu einer persönlichen Angelegenheit erklären, bei der der Rassenkonflikt nicht fehlte.
Seit ein paar Jahren mangelte es im Quartier Latin nicht an den Söhnen Hams. Als ich den Boul’ Mich’ wieder hinaufging, begegnete ich einigen von ihnen. Boul’ Mich’? Von wegen! Bougnoule Mich’, ja! Oh! Oh! Was hast du bloß, Nestor? Bist wohl in gereizter Stimmung. Liegt es am Schnee? Vielleicht. Er bringt mich auf schwarze Gedanken. Zum Totlachen, was?
Ich betrat ein Bistro, das zum Bersten voller lärmender Studenten war, und genehmigte mir einen Martini. Vielleicht befanden sich ja Bekannte von Paul Leverrier in dem Haufen. Bei allem, was ich von dem komischen Vogel wußte...
Ich wußte genug. Was für ein Trottel! Statt so blöd zu sein, sich selbst umzubringen, hätte er sich auch umlegen lassen können... Nichts da! Er hatte sich schlicht und einfach selbst abgemurkst. Ich brauchte dringend einen interessanten Auftrag, aber ich verließ mich besser nicht darauf, daß dieser Junge mir einen verschaffen würde. Außer...
Ich hatte schon ein mögliches Betätigungsfeld im Auge. Das hätte mir übrigens schon längst einfallen können, aber an manchen Tagen steht man einfach auf der Leitung.
Also... Die Gründe für Pauls Selbstmord sind im Dunkeln geblieben. Und wenn ich versuchen würde, sie ans Licht zu bringen? Einspruch, Euer Ehren: den Flics ist es nicht gelungen. Zugegeben. Aber Flics sind Beamte, keine Künstler, sie suchen nicht den Teufel im Detail. (Außer vielleicht Masoultre, und selbst der...) Man liefert ihnen einen offenkundigen Selbstmord; sie nehmen aus Routine und Pflichtbewußtsein die Ermittlung auf, aber als sie nichts finden und es faktisch unmöglich ist, daß es sich um ein vertuschtes Verbrechen handelt, wenden sie sich anderen Aufgaben zu.
Ja, in der Richtung gab es vielleicht etwas für mich zu tun. Um so mehr, als es nervig und völlig nutzlos war, die kleine Jacqueline drei Wochen oder einen Monat lang hinzuhalten, denn wer sagte mir, daß sie nach einem Monat ausreichend zur Räson gekommen wäre, um zu akzeptieren, daß ihr Geliebter sich umgebracht hatte? Wenn ich ihr hingegen einen vernünftigen Grund für die tragische Handlung des Jungen liefern könnte, würde sie natürlich leiden, aber auch nicht mehr als jetzt. Und von dieser nervtötenden Ungewißheit befreit, würde sie sich schneller wieder fangen. Ja, das konnte ich in Angriff nehmen. Das schien mir eine harte Nuß zu werden, aber ich hatte schon Schlimmeres erlebt.
Ich verließ das Bistro und ging bei einem Chinesen in der Rue Cujas eine Pekingente essen. Anschließend ging ich zur Verdauung ins Champollion, das kleinste Kino von Paris – genau hundertsiebenundfünfzig Plätze – in dem Beerdigung im Sackkleid lief, ein Kriminalfilm mit Jacqueline Pierreux, immer noch genauso schön und – ich mache ihr keinen Vorwurf daraus – genauso verschwenderisch mit ihren Reizen. Heute war der Tag der Jacquelines. Und weil es der Tag der Jacquelines war, sollte es auch der Tag der aufeinanderfolgenden und verschiedenartigen Spektakel sein. Nach dem Kino das Varieté. Ich holte meinen Wagen am Quai des Orfèvres und fuhr an der Seine entlang bis zur Rue du Haut-Pavé.
Chez Colin des Cayeux… Die nachgemachten, von Neon eingefaßten gothischen Buchstaben blinkten auf halber Höhe der Fassade eines alten, massiven Hauses. Ich hatte mich nicht getäuscht. Das Cabaret, in dem Jacqueline auftrat, stand an der Stelle des Cabarets, das ich von früher her kannte.
Die Vorstellung fand im Kellergeschoß statt, aber man betrat zunächst eine ebenerdige Bar. Die Wände zeigten noch Spuren von Schicksalen aus der Zeit vor dem Etablissement. Ein eisernes Schild in Form eines deutschen Talers trug die Inschrift: A l’Ymayge Nostre-Dame. Ein von Freddy-Vidal signiertes Plakat zeigte einen mageren, grüngesichtigen Kerl mit Wuschelkopf mit einer Schlinge um den Hals und weit heraushängender Zunge. Der gehängte Dichter... streckt den Dummköpfen die Zunge heraus. Auf dem Programm in dieser längst vergangenen Zeit standen Jaques Cathy, Pierre Ferrary, Lucien Lagarde, Léo Malet etc. Nirgends ein Hinweis auf das aktuelle Programm.
Ein mürrischer, schweigsamer Einzelgänger und ein tuschelndes Paar teilten sich den Tresen. Der Barmann, der die traditionelle weiße Jacke gegen ein farbiges Wams eingetauscht hatte, hantierte mit den Flaschen. Er begrüßte mich überschwenglich, aber genervt: «Guten Abend, gnädiger Herr.» Die Rolle des Hanswurst war ihm lästig. Aus dem Keller drangen lautes Stimmengewirr und feierliche, asthmatische Musik, wahrscheinlich von einem Harmonium. Die Garderobenfrau war als Troubadour oder Page verkleidet. Irgend etwas in der Richtung. Samtenes Barett mit Feder, weit ausgeschnittenes Wams und hautenge, zweifarbige Hose, ein Bein rot und das andere grün. Ich überreichte ihr Hut und Mantel, und sie wies mir den Weg in den Veranstaltungssaal und riet mir, auf meinen Kopf aufzupassen, wenn ich durch die niedrige Tür trat. Ich stieg die abgetretenen Stufen einer Steintreppe hinab.
Unten herrschte in schützendem Halbdunkel reges Treiben und ein Höllenlärm. Das Harmonium kämpfte verzweifelt dagegen an, aber vergeblich. Die dicke, verqualmte Luft roch nach Parfüm – dem besten und schlechtesten –, nach Tabak jeglicher Herkunft und ein wenig nach Feuchtigkeit. Die Wände waren, soweit ich das bei der für das XV. Jahrhundert typischen Beleuchtung aus ziemlich blinden Blendlaternen beurteilen konnte, holzvertäfelt und mit bildhaften Episoden aus Villons Zeit versehen: Diebstahl von ausliegenden Lebensmitteln, Aufhängen von Galgenvögeln, Abhängen von Hoheitszeichen, Begrapschen von Huren mit riesigen Titten etc. Die Tische waren denen der Tavernen nachempfunden, und man saß auf Schemeln.
Es war brechend voll, und ich fragte mich, ob ich noch einen Platz finden würde, als ein freundlicher Troubadour, der Bruder, oder besser gesagt die Schwester der Garderobenfrau, mich unter ihre Fittiche nahm. Diese Troubadouresse hielt eine unechte Laute, die in einen mit Zigaretten gefüllten Bauchladen umfunktioniert worden war, vor sich her. Sie ergatterte einen Platz für mich und lotste mich quer durchs Publikum dort hin, wobei ihr praller, zweifarbiger Hintern hier an eine Schulter, dort an einen Kopf stieß. Ich setzte mich, kaufte meiner Führerin für ihre Mühe ein Päckchen Glimmstengel ab und bestellte beim Kellner, einem Burschen in der Uniform eines dem Strick entkommenen Gauners irgendein Gebräu. Er brachte es mir kurz darauf in einer Art Humpen.
Das muntere Geplapper an allen Tischen brach nicht ab, und das Harmonium, das unterhalb einer kleinen, von einem roten Vorhang kaschierten Bühne stand, gab nicht auf. Sein Spieler schien einen Wettstreit auszutragen. Plötzlich erklang eine Glocke. Das Harmonium hörte auf zu jaulen, und am Rand des roten Vorhangs leuchtete eine Lichterkette auf. Es wurde halbwegs still. Ich hatte den Eindruck, daß es jetzt los ging. Ein stämmiger Kerl mit langen Haaren, schwarzem Seidenhemd und gerippter Samthose, der mehr an das Ende des XIX. als an das XV. Jahrhundert erinnerte, kam auf die Bühne.
«Schöne Knappen, edle Damen und Edelfräulein», bellte er, «ich, Jehan de Montgibet und Hausherr, habe die Ehre, Ihnen nun die einzigartige Darbietung zu präsentieren, die die anspruchsvollsten Kunstliebhaber aus nah und fern an diese Stätte zieht... (Er machte eine Kunstpause.)... Ist Isolde eine Tristesse? ... (Noch eine Pause, dann mit Nachdruck, falls uns die Finesse entgangen sein sollte.)... Ist diese Isolde etwa eine Tristesse?... Urteilen Sie selbst, meine edlen Herren. Hier ist... ich darf um einen Beifallssturm bitten... Isolde. Hier kommt Isolde.»
Er gab das Signal für den Beifall und zog sich zurück. Bravorufe brausten auf. Ein interessiertes Gemurmel, wahrscheinlich von Eingeweihten oder Kumpanen, erhob sich, und der Vorhang ging auf und gab den Blick auf eine junge Frau frei. In der Zwischenzeit war ein Troubadour, der dritte an diesem Abend, der mir begegnet ist, aber diesmal allem Anschein nach männlichen Geschlechts, aus den Kulissen aufgetaucht, hatte sich ganz links vorne auf die Bühne hingesetzt und begonnen, mehr schlecht als recht auf seiner Gitarre zu klimpern. Die junge Frau trug ein mittelalterliches, äußerst originelles Kostüm von schlichtem Schnitt. Ihre blonde Haarpracht, gekrönt von einem Hennin, fiel auf ihre Schultern.
Es war Jacqueline Carrier.
Sie lächelte verlegen ins Publikum und verbeugte sich vor den Beifallsrufen. Als erstes sang sie La rue Saint-Jaques von Mac Orlan. Ihre Interpretation, wenn sie auch nicht an die von Germaine Montero herankam, ließ sich hören. Dann kündigte sie an: Tu guettes, Huguette, und eine Welle der Unruhe ging durch einen Teil des Saals. Tu guettes, Huguette war die umständlich konstruierte und langweilige Geschichte einer Schloßherrin, deren Herr und Meister in den Glaubenskrieg gezogen war. Ich begriff nicht, warum einer meiner Nachbarn sich die Lippen leckte. Bald verstand ich.
Mit langsamen, wohl überlegten Bewegungen, ähnlich denen, mit denen sie in meinem Büro ihren Dufflecoat aufgeknöpft hatte, nur provozierender, begann Jacqueline-Isolde-Huguette sich auszuziehen. Na so was! Wenn man ihnen das am Cours Mazarine beibrachte! Mittelalterlicher Striptease! Ihr Kostüm, das die Illusion vermittelte, aus einem Stück zu sein, bestand in Wirklichkeit aus mehreren, deren sie sich mit der perfekten Professionalität ihres Jobs nacheinander entledigte. Als sie nur noch einen BH, ein Spitzenunterhöschen und schwarze Strümpfe trug, die an mit einer Blume verzierten Strumpfbändern befestigt waren, entlockte der Gitarrist seinem Instrument eilig ein paar jaulende Töne. Er hörte abrupt in genau dem Augenblick auf, als der BH fiel. Bewundernde Rufe ertönten, unter die sich ein seltsames «Pst» mischte. Guter Gott! Wenn man bedachte, daß Paul Leverrier diesen makellosen Körper in seinen Armen gehalten und sich umgebracht hatte... Ich verstand, daß sie das für ausgeschlossen hielt... Aber er hatte sich umgebracht. Jedenfalls war er nicht ins Reich der Schatten gegangen, ohne vorher etwas vom Leben gehabt zu haben... gleichwohl hielt ich die Nummer für beendet. Aber nein... da... Scheiße, verdammt!... Ihr ging die Puste nicht aus. Sie könnte dem Harmonium etwas davon abgeben. Jetzt, in der totalen Stille, hätte man eine Fliege herumschwirren hören können... sie nahm den Slip in Angriff. Diese Auszieherei zog einem doch glatt die Schuhe aus! Und apropos «schwirren», ich hoffte für Jacqueline, daß kein Sittenwächter im Publikum herumschwirrte, weil... Ihr Slip, mit geschickt angeordneten Reißverschlüssen versehen, glitt an ihren hübschen Beinen hinab... und enthüllte einen winzigen, aber dennoch zweckdienlichen Keuschheitsgürtel!
Na bitte! Die Moral war gerettet (hm...), und die verlogene Tradition der Kreuzzüge respektiert.
Es folgte ein Heidenlärm, Hochrufe ohne Ende, rasender Beifall. Jacqueline verschwand rückwärts unter Verneigungen hinter dem Vorhang, dessen Falten heftig schlagend, wie das Herz nicht weniger Zuschauer, wieder herabfielen. Über dem allgemeinen Lärm setzte das Harmonium wieder ein und hauchte einen Totentanz.
Nicht weit von mir bemerkte ich den Kellner, der mich bedient hatte. Ich winkte ihn heran.
«Kommt diese Stripperin noch einmal?», fragte ich.
«Nein», sagte er. «Mir wäre es recht, aber ich habe diesbezüglich nichts zu sagen. Aber die Darbietung ist noch nicht vorüber. Jetzt ist der Chef dran... der Tavernenwirt, meine ich. Scheiße! Ich vergesse dauernd meinen Text.»
«Jehan de Montgibet?»
«Genau.»
«Zieht er sich auch aus?»
«Er singt. Le plaisir des Dieux, Les filles de Camaret etc.»
«Verstehe. Folklore aus dem Quartier Latin.»
«Ja. Das ist ganz lustig.»
Das Repertoire kenne ich in- und auswendig. Ich höre es lieber, wenn Patachou singt, das ist aufregender. Ich stand auf und stieg wieder nach oben. Ich sprach die Garderobenfrau an:
«Ich würde gern Jacqueline Carrier sehen. Wo muß...»
Sie schüttelte den Kopf.
«Was glauben Sie wohl? Nur, weil sie sich nackt auszieht...»
«Ich bin ein Freund.»
«Das sagen sie alle.»
«Ich bin wirklich einer. Wenn Sie ihr meine Karte geben könnten, werden Sie es sehen. Außerdem habe ich sie bei ihrem richtigen Namen genannt, oder?»
«Das stimmt.»
Ich reichte ihr meine Karte, eingeschlagen in einen Fünfhundertfrancschein.
«Ich werde sehen, was ich tun kann», sagte sie und sackte das Ganze ein. «Wenn Gäste kommen, bitten Sie sie um etwas Geduld.»
Ich kam nicht dazu. Sie kehrte fast augenblicklich zurück und zeigte auf die Tür, durch die sie hinausund wieder hereingetreten war. Diesmal mußte man nicht nur auf den Kopf, sondern auch auf die Stufen aufpassen. Die Garderoben waren in ehemaligen Kellerräumen untergebracht. In einen Morgenmantel eingehüllt erwartete Jacqueline mich auf der Schwelle einer dieser Räume im Gegenlicht einer dicken Glühbirne. Das Licht umgab ihr Haar mit einem goldenen Heiligenschein.
«Guten Abend, Monsieur Nestor Burma», sagte sie verlegen. «Waren Sie... waren Sie im Saal?»
«Ja.»
Sie errötete und biß sich auf die Lippen.
«Können wir zu Ihnen hinein gehen?», fragte ich.
«Oh! Wenn Sie möchten...»
Aus dem ehemaligen Kellerraum war das Bestmögliche gemacht worden. Das Mobiliar bestand aus einem Frisiertisch, zwei Stühlen von der Art wie bei der Polizei und einem Kleiderschrank. Unter dem Frisiertisch lief ein elektrischer Heizkörper und verbreitete eine angenehme Wärme. Zwischen einem Schminktopf und einer Schachtel Papiertaschentücher zum Abschminken lag der Keuschheitsgürtel.
«Jetzt», sagte Jacqueline, setzte sich an den Schminktisch und sah mich durch den Spiegel an, «halten Sie mich sicher für ziemlich unanständig, was?»
«Warum sollte ich? Seien Sie nicht dumm. Was soll diese törichte Scham? Haben Sie mich nicht selbst hergebeten?»
«Ja, aber in der Absicht abzusagen. Was ich ja auch getan habe. Ich habe es Ihnen doch erklärt.»
«Stimmt. Jedenfalls bedaure ich nicht, daß ich Ihre Nummer gesehen habe. Sie ist sehr gut. Stammt die Idee von Ihnen?»
«Nein. Reden wir nicht mehr darüber, einverstanden? Manchmal ekele ich mich vor mir selber. Aber man muß schließlich auch etwas essen.»
«Lassen Sie ihren Hunger nicht an mir aus. Ich bin doch ein Freund und habe keine Vorurteile. Weiß Pauls Vater Bescheid?»
«Ja. Reden wir nicht mehr darüber, einverstanden?»
«Einverstanden. Reden wir ein wenig über Paul. Ich bräuchte ein paar mehr Hinweise über ihn. Ich verstehe, daß das schwer für Sie ist, aber Sie haben mich engagiert, um herumzuschnüffeln und...»
«Haben Sie schon angefangen?», fragte Sie lebhaft.
«He! Moment mal! Ich kann nicht hexen.»
«Nein, natürlich nicht.»
«Ich warte an der Bar auf Sie, einverstanden? Ich bin nur gekommen, um Ihnen vorzuschlagen, daß wir vielleicht gleich in einem ruhigen Bistro miteinander plaudern können.»
«Genau. Ich komme nach... will mich nur erst wieder anständig herrichten», fügte sie mit einem traurigen Lächeln hinzu.
An der Bar unter der Wanduhr, die viertel nach zwölf zeigte, vertrieb der Kellner im Wams sich die Zeit damit, mit der Garderobenfrau quer durch den Raum ein paar Worte zu wechseln. Während ich wartete, ließ ich mir ein Getränk servieren.'
Im Keller grölten sie lauthals einen Refrain eines Soldatenlieds im Chor. Der dumpfe, rhythmische Widerhall verklang am Fuße der Bartheke.
Die Tür zur Straße ging auf. Ein Bursche und ein Mädchen, beide jung, mit Brille und im Dufflecoat, kamen mit der Kälte der Nacht herein. Sie stützten ihre Ellenbogen auf den Tresen.
«Salut, Georges», sagte der Bursche. «Ist nicht gerade warm.»
«Salut», antwortete der Barmann. «Schneit es immer noch?»
«Nein.»
Der Neuankömmling zeigte seine trockenen Kleider.
«Ist aber trotzdem nicht gerade warm.»
Er wirkte gereizt.
«Typisches Wetter für die Jahreszeit», bemerkte der andere. «Was möchtet ihr?»
«Erst mal wissen, ob Jacqueline schon weg ist», sagte das Mädchen.
Ihre Stimme, müde und schleppend, war so blaß wie ihre Wangen, die die Kälte nicht belebt hatte. Als sie ihre Brille abnahm, um die beschlagenen Gläser zu polieren, bemerkte ich tiefe Ringe unter ihren Augen. Ihr Freund begann ebenfalls, seine Brille zu putzen.
«Noch nicht», sagte der Barmann.
«Dann trinken wir etwas, während wir auf sie warten.»
Als sie ihre Getränke bekommen hatten, richtete der junge Mann nach einem zerstreuten Blick auf meine Stierkopf-Pfeife seine Aufmerksamkeit auf die Wanduhr.
«Wegen deiner Flausen», murrte er, «kommen wir noch zu spät zu Hubert. Mein Gott! Brauchst du dieses Buch wirklich so dringend? Kann das nicht bis morgen warten? Oder sogar noch länger? Ich wette, daß du es frühestens in einer Woche aufschlägst.»
«Du ödest mich an», antwortete das Mädchen.
Das war bestimmt nicht gelogen.
«Ich brauche es, und der einzige Weg es wiederzubekommen ist, uns jetzt auf Jacqueline zu stürzen.»
In dem Moment erschien Jacqueline. Sie begrüßten sich alle wie alte Bekannte.
«Sag mal», sagte das Mädchen dann. «Diesen Bildband, den ich dir geliehen habe... über das Theater... ich hätte ihn gern wieder. Können wir bei dir vorbeischauen und ihn holen?»
«Jetzt?»
«Ja.»
«Oh! Natürlich...»
Jacqueline drehte sich zu mir um:
«Es macht Ihnen doch nichts aus, daß...»
«Ganz und gar nicht», sagte ich.
«Ah! Der Monsieur gehört zu dir?», rief das Mädchen und bedachte mich mit einen seltsamen Blick.
«Ja. Darf ich vorstellen... Monsieur Nestor Burma... Yolande Lachal... Gérard Basily.»
Wir schüttelten uns die Hand. Worauf ich ihnen anbot... nur falls sie kein Auto hatten natürlich... sie in meinem mitzunehmen. Sie waren nicht motorisiert und nahmen die Einladung an.

Das Hôtel Jean, auf halber Höhe der abschüssigen Rue Valette am Hang des Montagne Sainte-Geneviève, lag in tiefem Schlaf. Hinter dem Türgitter, weit hinten in der Halle, war ein schwacher Lichtschein zu erkennen, wahrscheinlich aus einem seitlichen Kabuff, dem Schlupfwinkel des Nachtportiers. Bevor sie aus dem Wagen stieg, kramte Jacqueline in ihrer Tasche. In dieser Nacht hatte sie eine Handtasche, die trotz ihrer Größe weiblicher wirkte als ihre Mappe vom Nachmittag.
«Scheiße! Ich kann meinen Zimmerschlüssel nicht finden. Hoffentlich habe ich ihn nicht wieder verloren», sagte sie mit einer Spur Besorgnis in der Stimme.
«Bitte den Portier um einen Generalschlüssel», sagte Yolande.
«Ich möchte Germain nicht wecken. Wenn man ihn weckt, wird er grantig, er schmollt dann eine ganze Woche und rückt nichts mehr raus, wenn man was braucht.»
«Das ist ja ein feiner Nachtportier!» feixte Gérard. «Er pennt! Man könnte euch da drin alle vergewaltigen.»
«Sei nicht bescheuert. Das ist ein ruhiges Haus. Ob Germain schläft oder nicht... Ah! Da ist er ja! Na ja, ich hatte schon Angst... vor ein paar Tagen habe ich ihn schon einmal verlegt, aber zum Glück habe ich ihn wiedergefunden und...»
«Oh! Schon gut, Jac», fiel Gérard ihr ungeduldig ins Wort. «Das kannst du uns ein andermal erzählen. Ich sollte bei Hubert im Warmen sein und friere mir hier den Arsch ab. Geht hoch und holt dieses verdammte Buch, und basta.»
Die beiden Freundinnen stiegen aus dem Wagen und betraten das Hotel. Gérard und ich blieben allein. Wir schwiegen beide. Betrachteten die Kuppel des Panthéon dort oben, am Ende der Rue Valette, dessen imposante, dunkle Masse in den helleren, klaren, wolkenlosen aber eisig wirkenden Himmel ragte.
Plötzlich ging die Hoteltür wieder auf, und Jacqueline stürzte zu mir. Sie keuchte und schien sich nicht wohl zu fühlen.
«Schnell», sagte sie. «Kommen Sie... Sie können das besser beurteilen als wir... ich... kommen Sie...»
«Was ist los?», fragte ich und stieg aus.
«Noch mehr Ärger!» schimpfte Gérard.
Jacqueline zog mich, ohne eine Antwort zu geben, ins Hotel. Wir gingen an der Loge des Portiers vorbei, besagten Portiers, der tatsächlich pennte. Wir stiegen in den zweiten Stock hinauf.
«Dort... in meinem Zimmer», sagte Jacqueline und deutete auf eine angelehnte Tür.
Ich stieß sie auf.
Yolande, aschfahl, aber mit einem seltsamen kleinen Lächeln im Mundwinkel, saß auf einem Stuhl in der entferntesten Ecke des Zimmers. Sie starrte einen Typ im Schlafanzug unter einem rotweiß gestreiften Bademantel an. Einen Typ, der reglos auf dem Bettvorleger des zerwühlten Bettes lag.

 

 

 



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