Programm Sachbuch
Sein Job als Leibwächter einer US-amerikanischen Filmdiva hat Nestor Burma mit Pariser Filmkreisen in Berührung gebracht. Dabei wird Burma in heftige Auseinandersetzungen zwischen Filmproduzenten, in Rivalitäten zwischen Stars und Sternchen verwickelt. Er stolpert über jede Menge Rauschgift und Leichen. Was für eine Corrida! Und das rund um die noblen Champs-Élysées.
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Corrida auf den Champs-Élysées
DIE NÄCHTLICHE BESUCHERIN
Als wir das Crazy Horse verließen, winkte Marc Covet ein Taxi herbei, um nach Hause zu fahren, und wir trennten uns. Ich kehrte zu Fuß auf die Champs-Élysées zurück. Trotz der fortgeschrittenen Stunde war die Eingangshalle des Cosmopolitan taghell erleuchtet. Der Portier, frisch rasiert, korrekt und elegant hinter seinem Tresen aus Mahagoni, erteilte einem jungen Pagen Anweisungen. Aus dem Tanzlokal im Untergeschoß drang das gedämpfte Gedröhne einer Band. So spät noch, das war ungewöhnlich.
«Was ist denn hier los?» fragte ich den Angestellten, als er mir den Schlüssel reichte.
«Leute vom Film, Monsieur», erklärte er.
Wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich – immer zu Diensten – der Liftboy vor mir, um mir die Fahrstuhltür aufzuhalten. Schnell und geräuschlos setzte mich der Fahrstuhl auf meiner Etage ab. Ich betrat meine Suite, durchquerte das Wohnzimmer und ging ins Schlafzimmer. Ich knipste die Deckenbeleuchtung an und steuerte auf das Bett zu.
Da sah ich sie.
***
Was die Leute behaupten, stimmt nicht immer. Zum Beispiel, daß Betrunkene schrecklichen Halluzinationen unterliegen. Daß ihnen Ratten, Spinnen, Elefanten und andere abscheuliche und abstoßende Viecher erscheinen. Das stimmt nicht immer... oder aber man muß zugestehen, daß ich, wenn ich mich vollaufen lasse, in den Genuß einer besonderen Kost komme.
Was da in meinem eigenen Bett schlief, das Oberlaken zurückgeworfen, war weder eine Ratte noch eine Spinne. Allenfalls eine Maus.
Knapp zwanzig Jahre alt. Eher jünger. Ein hübsches Gesichtchen, gekonnt geschminkt, von kastanienbraunem Haar umrahmt. Stark parfümiert. Durchsichtige Seidenstrümpfe, die ihre wohlgeformten Beine zur Geltung brachten, Nagellack und eine Armbanduhr.
Ich holte einen Stuhl und setzte mich. Offengestanden, ich war tatsächlich ein wenig in Verlegenheit geraten.
Das nackte Mädchen seufzte, machte einen Schmollmund, wälzte ihren Kopf auf dem Kissen und fing an, mit der Hand neben sich zu tasten. Gleich darauf schlug sie die Augen auf. Unter dem grellen Licht schloß sie diese sofort wieder. Ich stand auf, löschte die Deckenlampe, machte eine gedämpftere Wandbeleuchtung an und setzte mich wieder, ohne etwas zu sagen. Das Mädchen richtete sich auf, nahm den Kopf in die Hände und fuhr sich durchs Haar. Sie gähnte, öffnete die Augen schließlich auf ihren normalen Durchmesser und sah mich an. Sie wirkte in etwa so verlegen und verwirrt, als ob sie, von Kopf bis Fuß angekleidet, in einem Tabac eine Briefmarke kaufen würde.
«Entschuldigen Sie», sagte sie. «Ich glaube, ich... ich bin eingeschlafen...»
Ihre Stimme war schmusig, heiß, provozierend. Einstudiert. Verdammt einstudiert. Sie hatte einen hübschen, schlanken, bernsteinfarbenen Körper. Ihr Bauch war flach, ihre Brüste waren klein, schön geformt und fest, ihr Gesicht war hübsch, das stellte ich erneut fest, aber ich hatte schon mit Kehrschaufeln Bekanntschaft gemacht, aus denen mehr Intelligenz sprach.
«Ich bin eingeschlafen», wiederholte sie.
«Ja», sagte ich freundlich. «Und haben sich dabei im Zimmer geirrt.»
«Oh! Monsieur... aber... (Sie riß die Augen auf)... aber sind Sie nicht... oh!»
Die Scham kam mit Verspätung. Sie streifte sich das Laken wieder über und musterte mich fast verängstigt:
«Wer si... sind Sie denn?» stammelte sie.
«Mein Name würde Ihnen nichts sagen.»
«Sind Sie... vom Film?»
«Nicht wirklich», grinste ich, als ich den Grund für die Verwechslung begriff. «Ich bin vielleicht der einzige in diesem Hotel, der nichts mit dem Film zu tun hat. Kein Glück, was?... (Ich stand auf.)... Mußt woanders pennen, Kleines.»
«So was, wirklich! Was bin ich doch manchmal für eine blöde Gans!» rief sie aus, nicht ahnend, wie Recht sie hatte.
«Wo sind Ihre Kleider?»
«Da.»
Sie zeigte auf einen Stuhl, auf dem ihre leichte Ausrüstung lag: eine weit ausgeschnittene Bluse, ein heller Plisseerock und ein absolutes Minimum an Unterwäsche.
«Und bitten Sie mich bloß nicht wegzusehen, während Sie sich wieder anziehen, klar?» warnte ich sie und reichte ihr zunächst die hochhackigen Schuhe, die ich neben dem Schrank aufgesammelt hatte. «Ich würde nicht gehorchen.»
Wutentbrannt schleuderte sie im Bewußtsein ihrer wahren Schönheit das Laken von sich und sprang auf den Bettvorleger, als wollte sie mich herausfordern. Stück für Stück reichte ich ihr ihre Klamotten. Nach dem klassischen Striptease der schönen Rita mißfiel mir dieser umgekehrte Striptease ganz und gar nicht. Aber wenn ich glaubte, sie zu demütigen, kam ich nicht auf meine Kosten.
«Sie möchten offensichtlich zum Film», sagte ich während der Aktion.
«Stimmt.»
«Und haben darauf vertraut, auf diesem Weg...»
«Genau.»
«Gibt es denn keinen anderen Weg? Haben Sie zum Beispiel noch nie etwas von Talent gehört?»
Bevor sie ihren Büstenhalter zuhakte, warf sie sich in die Brust und betrachtete sich selbstgefällig im Spiegel, stellte all ihre Konturen zur Schau.'
«Früher», sagte ich, «hieß es unter Schauspielern: ‹Alles unter die Maske und in die Kostüme.› Heute... Na ja, lassen wir das. Wie sind Sie hier reingekommen?»
Sie antwortete nicht, damit beschäftigt, die Fältchen ihres Dekolletés zu ordnen, das ihre Schultern frei ließ. Ich bemerkte, daß über dem Herzen ein gestickter Vorname – Monique – auf der Bluse prangte. Es fehlte nur noch die Telefonnummer, und die Uhrzeiten, zu denen eine Chance bestand, sie am anderen Ende der Leitung zu erreichen.
«Sind Sie soweit? Kommen Sie, nichts für ungut, Monique. Ein andermal werden Sie mehr Glück haben. Sie werden sich nicht in der Bude irren. Mehr Glück... wenn man so sagen kann...» (Wut stieg in mir hoch. Ich griff das Mädchen am Arm und rüttelte sie.)... «Verdammte Idiotin, die mich zwingt, ihr um drei Uhr morgens eine Moralpredigt zu halten, obwohl ich selber halb blau bin. Können Sie diese Hirngespinste nicht sausen lassen und versuchen, sich ein nettes, kleines ruhiges Leben aufzubauen, statt sich, was weiß ich wie vielen Schweinehunden, zu verkaufen, vielleicht für nichts? In Gottes Namen! Es gibt doch genug hübsche junge Burschen auf der Welt, sogar Burschen, die mit den Händen arbeiten, ein Mécano oder dergleichen, was weiß ich, ein netter Kerl, der Sie glücklich machen und selber glücklich sein würde...»
«Ein Mécano? » lachte sie hämisch. «Scheiße auch! Danke für die Predigt.»
Ich ließ sie los.
«Verschwinden Sie», sagte ich.
Ich begleitete sie bis auf den Flur, hielt ihr die Tür auf. Sie ging an mir vorbei, erstickte mich mit ihrem teuren Parfüm, das gleiche, das Miss Grace Standford benutzte, ein Parfüm, das Monique in Naturalien bezahlt haben mußte. Sie trat hinaus in den Flur. Sie heftete ihre dunklen, warmen Augen fest auf mich. Darin war deutlich zu lesen: «Sie sind ein Idiot.» Idiot, klipp und klar. Sie sagte:
«Bis bald mal. Wenn ich den Mécano gefunden habe.»
Sie entfernte sich mit wiegenden Hüften auf ihren schlanken Beinen, à la Marylin Monroe. Der Läufer schluckte das Klappern ihrer Absätze. Ich wartete nicht, bis sie die Treppe erreicht hatte, bevor ich die Tür schloß.
Schließlich hatte sie recht. Ein Mécano! Das gab’s doch nicht, ich wurde zum Arbeiterdichter! Ich kannte Mechaniker. Ihre Frauen waren recht nett, aber sie waren keine Starlets.
Ich ging in Richtung Badezimmer. In dem Moment nahm ich – so glaubte ich jedenfalls – im Flur ein flüchtiges Geräusch wahr. Ich machte die Tür wieder auf. Der Flur lag verlassen und in dem üblichen Halbdunkel da.
Ich kehrte zum Waschbecken zurück, trank ein Glas lauwarmes Wasser und zog mich aus. Auf dem Bett zeichnete sich noch der Körperabdruck von dem kleinen Luder ab. Ich streckte mich aus, eingehüllt in die letzten Reste ihres Parfüms.
Corrida auf den Champs-Élysées
Nestor Burma enthüllt Pariser Geheimnisse: Léo Malet (1909–1996) kannte das Stadt- und das Berufsleben. Er war Clochard und Chansonier, Filmstatist und Journalist, Ghostwriter und Herausgeber. Nur eines war er selten: zufrieden. Seinem großen Schaffensdrang ist es geschuldet, dass er sich drei Jahrzehnte lang an einer einzigen Romanreihe abarbeitete: den Krimis um den Pariser Privatschnüffler Nestor Burma. 1942 erschien der Auftakt der Serie unter dem Titel «120, Rue de la Gare». Gemeinsam mit den folgenden 14 Büchern wurde daraus der faszinierende Zyklus «Die neuen Geheimnisse von Paris» – eine Anspielung auf «Die Geheimnisse von Paris», ein wuchtiges Prosa-Melodram, mit dem Eugène Sue in den Vierzigern des 19. Jahrhunderts zum Star avancierte. Auch sonst setzt der vom Surrealismus beeinflusste Malet alles daran, sich an berühmten Vorbildern abzuarbeiten. Zumal an den Hard-Boiled-Krimis von Raymond Chandler, dessen maulfaules Raubein Philipp Marlowe der launige Nestor Burma virtuos persifliert. Neben ihrem schwarzen Humor überzeugt die Reihe durch genaue Stadtkenntnis: Monsieur Malet hat seine 15 Bücher topografisch so arrangiert, dass jedes von ihnen in einem anderen Pariser Arrondissement spielt. So sind ihm nicht nur kluge Krimis, sondern zudem süffige Stadtporträts und Sittengemälde gelungen. Es ehrt den Heilbronner DistelLiteraturVerlag, dass er die Abenteuer Nestor Burmas jetzt in seiner Reihe «Série Noire» neu auflegt. Den Beginn machen «Corrida auf den Champs-Élysées» und «Makabre Machenschaften am Boul' Mich'» – beide Titel in zeitgemäßer Übersetzung von Katarina Grän und mit dem unverzichtbaren Pariser Stadtplan.
Hendrik Werner, DIE WELT
«Zum Schluß noch ein Hinweis. Nämlich auf einen weiteren Versuch - nach mehreren bisherigen - den französischen Schriftsteller Léo Malet in Deutschland bekannt zu machen. Der DistelLiteraturVerlag in Heilbronn ist der Tapfere. [...] Und ich kann das nur unterstützen, denn Léo Malet, der in den 40ern und 50ern seine Pariser Kriminalromane geschrieben hat, gehört zur originellen Fraktion der Krimi-Autoren und die sind selten. Er sei die französische Antwort auf die amerikanische hard-boiled Krimis und sein Detektiv Nestor Burma der legitime Nachfahre Philip Marlowes, heißt es. Schon richtig, aber Nestor Burma ist weder so trocken-sarkastisch wie Marlowe noch so moralisch wie der. Er ist eher ein Spieler, der mit allem rechnet. Und schon die Namen: Philip Marlowe, das können Sie auch mit zusammengebissenen Zähnen aussprechen, aber Nestor Burma. Darauf muß man erst mal kommen. Das Besondere an dieser ganzen Burma-Reihe ist, dass die einzelnen Romane in jeweils einem Pariser Arrondissement spielen und dessen speziellem Milieu. Also in seinen Büchern eine Art kriminelle Topografie von Paris entsteht. Sinnvollerweise enthalten die übrigens wunderschön gemachten Bände die Karte des entsprechenden Stadtteils und andere lokale Hinweise.
Uwe Kossack, SWR2, in: Forum Buch, Buchtipp