Programm Kriminalromane

Zoff in der Rue des Rosiers

Malet, Léo

 

 

Man findet Fred Baget nicht oft in Gesellschaft von nur einer Frau. Normalerweise ist ein ganzer Schwarm um ihn herum. Ich frage mich, wie dieser Kerl damit zurecht kommt. Dazu muss man sagen, dass er Maler ist. Ein «sehr pariserischer» Maler, wie man so sagt. Wirklich äußerst pariserisch, und er wohnt auf der Île Saint-Louis, was seine Appellation controlée noch mehr aufwertet. Wir beide sind zwar nicht gerade enge, keine dicken Freunde, aber wir kennen uns doch so gut, dass er mich hin und wieder einlädt, einen mit ihm zu heben. Ich lehne nie ab. Ich habe nichts gegen eine wohl proportionierte Augenspülung – das bewahrt das Sehvermögen –, und bei Fred Baget kann man sicher sein, in dieser Hinsicht immer gut bedient zu werden. Ich sag’s nochmal, in der Regel wimmelt es in seinem Atelier und dem dazugehörigen Appartement nur so von hübschen, nackten jungen Frauen, dass es eine Freude ist, ob sie nun in einer Gruppe anmutig vor dem Meister posieren, die dieser auf die Leinwand bannt, oder ob sie einfach nur in vorn wie hinten weit ausgeschnittenen Abendkleidern – viel Haut zeigend, eben – an einem der Empfänge teilnehmen, wie der Künstler sie oft gibt.
Aber an dem Tag, von dem ich spreche, einem nebligen Februarnachmittag, ist erstaunlicherweise nur eine einzige Frau bei Fred Baget, und zwar ausgestreckt auf einem niedrigen Sofa in einem kleinen, abgelegenen Zimmer mit unbestimmter Funktion.
Sie ist nicht nackt, aber sie ist tot.
Ich beuge mich über sie.
Sie ist eine Brünette von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, ganz und gar nicht übel, starke semitische Ausprägung. Unter einem aufgeknöpften, ein wenig schmuddeligen Herrentrenchcoat trägt sie ein schlichtes, aber geschmackvolles Woll-Komplet. Der Nylonstrumpf, der ihr rechtes Bein umhüllt, jenes, an dessen Ende der steif gewordene schuhlose Fuß sich aufrichtet, hat eine Laufmasche. Das leicht adlernasige Gesicht, wächsern unter dem dezenten Make-up, wirkt friedlich. Es ist schon ein paar Stunden her, seit sie ihre Geburtsurkunde verschluckt hat.
Fred Baget ist auch da, und ich wende mich ihm zu.
Er hat die Vierzig noch nicht lange überschritten, aber sein Schädeldach lichtet sich schon beträchtlich. Die ihm verbliebenen, struppigen Haare erinnern an einen Wiedehopf. Er ist groß, schlank, ziemlich kräftig, ein gut aussehender Mann. Auch elegant und lässig, aber eher unter normalen Umständen. Weil, was die letzte Viertelstunde anbetrifft... In einem Sessel zusammengesunken, mit äußerst genervter Mine, das Gesicht so aschfahl wie das der Leiche, außer dort, wo Spuren von rotem Lippenstift zu sehen sind – als wäre er von einer Hautkrankheit befallen – nachlässig in einen grünen Morgenmantel gekleidet, darunter im Pyjama, wiegt er den Kopf hin und her, was den Brummschädel, unter dem er offenkundig leidet, bestimmt nicht besser macht.#
Da er vergessen hat, uns vorzustellen, frage ich:
«Wer ist das?»
Er sieht mich mit verstörtem, glasigem Blick an, schluckt in aller Ruhe seine Spucke runter, sagt dann mit allgemein bekannter Säuferstimme, dieser Stimme nach Saufgelagen:
«Eine Juden-Tussi, auf den ersten Blick. Soll mich der Teufel holen, wenn ich mehr weiß. Und sie bei der Gelegenheit auch gleich mitnehmen. Sie muss mit jemandem gekommen sein, und dieser Jemand hat sie einfach da liegen gelassen.»
«Als Modell? Sie malen doch gar keine Stilleben.»
Er knurrt:
«Mein Gott! Ich bewundere Sie, Nes. Sie können darüber auch noch Witze machen.»
Ich zucke mit den Schultern. Was soll ich seiner Meinung nach denn sonst tun? Vorausgesetzt natürlich, dass ich überhaupt Witze mache. Ich merke es manchmal selbst gar nicht. Ich sage:
«Rumblödeln hebt die Moral.»
Er steht auf und gähnt herzhaft:
«Ein ordentlicher Schluck Schnaps hebt sie noch besser. Gehen wir ins Atelier. Es ist noch was zu trinken da. Ich brauch ein Glas, um Ihnen das zu erklären... Ich meine: zu versuchen, es Ihnen zu erklären, weil... soll mich der Teufel holen, wenn ich irgendwas begreife.»
Er wirft einen hasserfüllten und gleichzeitig verängstigten Blick auf die Tote, die wir zu ihrer Entspannung auf seinem Sofa liegen lassen. Wir durchqueren einen großen Raum und gelangen über eine Wendeltreppe, deren Geländer mit Zimmerpflanzen – Kletterpflanzen, die sich um die Stäbe ranken – geschmückt ist, in das geräumige Atelier.
Durch das große Fenster erkennt man rechts Notre Dame; links das Dachrestaurant von La Tour d’Argent, und im Vordergrund, am äußersten Ende der Pont de la Tournelle, das steinerne Denkmal, das zu Ehren der historischen Guten Hirtin Sainte Geneviève, Schutzpatronin von Paris, errichtet wurde, ein leicht phallisch geformtes Denkmal, man fragt sich, warum wohl.
«Wir hatten hier letzte Nacht eine kleine Zusammenkunft», sagt der Maler.
Er besteht darauf, mir ein Bild zu vermitteln, sicher eine Berufskrankheit. Nicht nötig, mich ins Bild zu setzen; ich habe Augen im Kopf.
Im Atelier herrscht ein heilloses Durcheinander. Schallplatten liegen neben einer kombinierten Radio-Phono-Fernsehanlage lose über ein Sofa verstreut. Der Boden ist mit Kippen aller Größen übersät, zusammen mit zerbrochenen Gläsern und leeren Flaschen. Der Teppich in der Mitte wurde beiseite gerollt, damit man schwofen konnte. Wie bei einer Parade sind Bilder mit der Schmalseite am Boden an der Wand entlang aufgereiht, und eines davon hat schwer gelitten. Wahrscheinlich im Laufe wilder Tanzeinlagen oder einer Rauferei. Die Frau, die es darstellt, hat einen Fußtritt mitten ins Gesicht gekriegt. Die Luft stinkt nach kaltem Zigarettenqualm vermischt mit einem ekelhaften Geruch von billigem Wein und von Schnaps.
Das erinnert mich an eine gewisse Einzugsfete in eine neue Wohnung in Montparnasse vor dem Krieg. Eine Einzugsfete, von der man im Café de Dôme noch lange gesprochen hat... als die Gäste wieder aus dem Krankenhaus kamen.
Fred Baget hat eine noch jungfräuliche Flasche Scotch und zwei heile und saubere Gläser aus einem Versteck geholt. Er schenkt ein und bittet mich dann, Platz zu nehmen, während er selbst stehen bleibt – bestimmt die Nerven. Ich räume ein paar Schallplatten beiseite und setze mich auf das Sofa.
Wir trinken schweigend.
Ein rauer Klagelaut steigt von der Seine auf, hervorgestoßen von einem spöttischen Schleppdampfer. Als wollte er sagen: «Na, was ist! Entschließen wir uns endlich, etwas zu tun?» Von dem Schlepper angespornt, legt der Maler los:
«Wir hatten hier letzte Nacht eine kleine Zusammenkunft», wiederholt er. «Ich hatte schwer einen sitzen. Hab ich übrigens immer noch mehr oder weniger, weil, nachdem ich diese verdammte junge dumme Gans entdeckt hatte... (Er ballt seine freie Hand.) Und während ich auf Sie gewartet habe, konnte ich mir nicht verkneifen, mir ein paar Gläser zu genehmigen. Manche hätte solch eine Entdeckung ernüchtert. Mich hat sie durstig gemacht...»
Er hat seinen Whisky hinuntergestürzt. Er schenkt sich einen neuen, großzügigen Schluck ein und fährt fort.
«Und ich habe nichts anderes getan als zu trinken und mir den Kopf zu zerbrechen, seit ich bei Ihnen im Büro angerufen habe...»
Er trinkt sein Glas aus, betrachtet es, dreht es in den Händen, fragt sich, ob er es noch einmal füllen soll, hält es dann für klüger, es auf die Staffelei zu stellen.
«Das ist über drei Stunden her», fügt er mit einem Hauch von Vorwurf hinzu.
Er hat um elf Uhr angerufen. Hélène, meine Sekretärin, hat geantwortet, dass ich nicht vor zwei Uhr nachmittags da sein würde. Punkt zwei Uhr hat er wieder angerufen, und da ich immer noch nicht zurück war, hat er es zehn Minuten später nochmal versucht, diesmal mit etwas mehr Glück.
«Ich muss Sie unbedingt sehen», hat er mit seltsamer Stimme gesagt.
Und ich habe mich zum Quai d’Orléans begeben, wo ich ihn in Gesellschaft der jungen toten Jüdin angetroffen habe.
«Trinken und mir den Kopf zerbrechen», fährt er fort. «Es ist mir weder gelungen, mich wieder ordentlich zu betrinken... vielleicht sollte ich Rachenputzer schlucken..., noch irgendetwas zu begreifen, außer, dass ich eine Leiche bei mir habe, auf die ich gut verzichten könnte. Aber jetzt sind Sie ja endlich da. Vielleicht geht’s jetzt ja besser.»
Er fischt eine einem Korkenzieher ähnliche Zigarette aus der Tasche seines Morgenmantels, steckt sie, so wie sie ist, zwischen die Lippen und zündet sie an. Ich folge seinem Beispiel und setze meine Pfeife in Szene.
«Hören Sie, Fred», sage ich dann. «Ich weiß nicht, wie ich Ihnen nützlich sein kann. Ich an Ihrer Stelle hätte zunächst einen Arzt oder die Flics gerufen. Am besten beide. Aber da Sie das nun mal nicht getan haben – sicher, weil Sie Ihre Geschichte lieber einem Bekannten erzählen – und ich, wie Sie sagen, ja da bin, legen Sie los, erzählen Sie! Aber fangen Sie am Anfang an, dann werden Sie selbst klarer sehen.»
Er versucht, den Geschwindigkeitsrekord in einem geschlossenen Kreis zu brechen, ganz wie an der Nadel hängende Zehnjährige im Zentralgefängnis, und geht im Atelier auf und ab, bleibt stehen, um sich die Stimmbänder anzufeuchten, durch das Fenster einen Blick auf die Landschaft zu werfen, sich eine Zigarette anzustecken, die er sofort wieder wegwirft oder seine diffusen Erinnerungen wieder zusammenzuklauben, und erstattet mir, gewürzt mit von Hunger oder seinem nervösen Zustand herrührendem Magenknurren, folgenden Bericht.
«Wir waren etwa ein Dutzend. Männer und Frauen. Ich hatte ein Bild früher als vorgesehen fertiggestellt und hab das gefeiert. Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht eingeladen habe...»
«Jetzt bin ich jedenfalls da.»
«Ja. Von den Leuten, die hier waren, kannte ich die meisten. Aber, wie immer, haben einige von denen, die ich kannte, zwei oder drei Unbekannte mitgebracht. Es herrschte ausgelassene Stimmung. Wir waren schnell benebelt. Ich war gegen Mitternacht jedenfalls ziemlich dicht. Ich erinnere mich, dass ich auf die Uhr gesehen habe. Mitternacht. Man kann wohl sagen, dass ich ab Mitternacht nicht mehr weiß, was passiert ist, noch, was ich gemacht habe. Ich glaube, dass alle gegen vier Uhr gegangen sind, aber ich bin mir nicht sicher. Alle!... Nicht alle, diese Juden-Tussi da... Nun... Gut... Um zehn Uhr heute Morgen bin ich in meinem Bett aufgewacht. Ich bin noch ein wenig auf der faulen Haut liegengeblieben und dann aufgestanden. Ich bin überall in der Wohnung umhergestrichen, untätig, schlecht drauf, und hab versucht, meinen Kater zu verscheuchen. Da hab ich die... Tote entdeckt, sie lag mitten in dem kleinen Zimmer. Mein Gott! Fünf Minuten zuvor hatte ich mich gerade wegen meiner Putzfrau verflucht, wegen des Respekts, den ich ja wohl von ihr erwarten kann, und meiner vorgefassten Meinung ihr gegenüber. Aber angesichts der Toten habe ich mich beglückwünscht, dass diese Minna nicht da war. Wenn sie die Leiche entdeckt hätte! Verstehen Sie, mein Freund, wenn ich einen kleinen Empfang gebe, sage ich meiner Putzfrau, dass ich sie am nächsten Tag nicht brauche. Mir liegt nichts daran, dass sie sieht, in welchem Zustand – immer mehr oder weniger chaotisch – die Wohnung ist, und daraus was weiß ich für Schlüsse zieht. Am Morgen nach einer Feier räume ich also immer selbst ein wenig auf. Ich beseitige die gröbste Verwüstung. Ich muss sagen, das ist gar nicht schlecht für die Gesundheit. Ich vergesse meinen Kater. Sehr oft hat es mir ihn sogar vertrieben. Aber, mein Gott! Ich musste noch nie eine Leiche verschwinden lassen! Also hab ich Sie angerufen.»
Ich lache herzlich:
«Weil Sie glauben, dass ich mich bestens damit auskenne, wie man Leichen beiseiteschafft?»
Er fährt hoch:
«Mein Gott! Das hab ich nicht gesagt. Was denken Sie nur von mir?»
«Nichts.»
Er brummt:
«Ich stecke schon tief genug in der Patsche.»
«Entschuldigen Sie. Immer meine üble Angewohnheit. Ich hab nur Spaß gemacht... Hm... , mal sehen... Sie haben gesagt: mitten im Zimmer. Sie war also nicht da, wo ich sie gerade gesehen habe, auf dem Sofa?»
«Nein. Ich hab sie dorthin gelegt. Fragen Sie mich nicht, warum. Das war instinktiv. Ich hab sie aufgehoben und auf das Sofa gelegt. Ich muss wohl gedacht haben, das sei anständiger.»
«Und während Sie sie dorthin geschleppt haben, hat sie ihren Schuh verloren?»
Er schüttelt den Kopf.
«Nein. Ich sage Ihnen, wir stecken bis zum Hals in einer verwickelten Geschichte. Ich kann mich nicht erinnern, dieses Mädchen unter meinen Gästen gesehen zu haben, aber sie muss ja da gewesen sein. Mit zwei Schuhen sicherlich. Einem für jeden Fuß. Zur Stunde trägt sie nur einen, und der andere ist nirgends in der Wohnung zu finden. Zumindest hab ich ihn nicht gesehen. Alles, was ich hier gefunden habe, außer... außer dieser Leiche, ist ein Pelzmantel und eine Handtasche, die ihr zweifellos gehörten. Wenn sie nicht jemand anders vergessen hat. Ich zeige sie Ihnen gleich, wenn Sie wollen. Sie sind unten, im Wohnzimmer. Ich hab die Tasche aufgemacht. Ihren Namen hab ich dadurch aber auch nicht erfahren. Sie enthält ein wenig Geld, den üblichen Krimskrams, aber keine Ausweispapiere. Auch nichts in den Taschen des Pelzmantels.»
«Was wollte sie dann mit dem Trenchcoat überm Buckel, wo sie doch einen Mantel hatte?»
«Eben!»
«Und auch noch ein Herrentrenchcoat. War das eine Kostümfete?»
«Nein. Eine echt verwickelte Geschichte, sag ich Ihnen.»
Er wischt sich mit der Hand über die Stirn und seufzt. Worauf kurz Schweigen herrscht, lediglich gestört durch ein noch heftigeres Magenknurren als die vorhergehenden, ein regelrechtes Gurgeln wie bei einer Klospülung, bei dem sein unfreiwilliger Verursacher das Gesicht verzieht. Davon abgesehen ist die Île Saint-Louis ruhig wie gewöhnlich.
Ich frage:
«Was ist dieser jungen Frau zugestoßen? Vertrug sie keine starken Getränke?»
Er fährt sich nervös durch seine schütteren Haare, und mit tonloser und besorgter Stimme:
«Nun ja... deshalb hab ich Sie ja angerufen...»
Er hält inne, dann:
«Sie wurde ermordet!»

 

 

 



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