Programm Kriminalromane

Blutprinzessin

Manchette, Jean-Patrick

 

 

ERSTES KAPITEL UND NACHWORT

1

Der schwarze Oldsmobile fuhr vorsichtig auf dem Sand eines Strandes. Balázs saß am Steuer. Maurer und Branko auf der Rückbank hatten ein siebenjähriges Mädchen, das in einen Daunenschlafsack eingehüllt war, zwischen sich, es war mit einer Morphiumspritze betäubt worden. Der Morgen dämmerte. Mit ausgeschalteten Standlichtern rollte der Wagen wie ein düsterer Schatten über den grauen Sand des leeren Strandes. Die Gesichter der drei Männer wirkten fahl und ihre Kleidung war dunkel. Die violette Zungenspitze im Mundwinkel zwischen die schmalen Lippen geklemmt, steuerte Balázs den schweren Wagen langsam über den unsicheren Boden, auf dem alte, hart gewordene Fahrspuren verliefen, deren Kanten jedoch schon abbröckelten. Er fuhr im ersten Gang auf das würfelförmige Haus zu, das abgelegen am Ozean stand. Sie kamen dort an, hielten und stiegen aus. Dann setzte sich Maurer ans Steuer des Wagens und manövrierte ihn in die einfach gebaute Garage: Es war nur eine geteerte Fläche unter einem breiten, mit Stangen abgestützten und schilfgedeckten Vordach, das hinter dem kubischen Haus angebracht war.
Balázs ging währenddessen in das zweigeschossige Gebäude. Branko folgte ihm mit dem bewußtlosen Mädchen in den Armen. Von diesem war nur der obere Teil des Kopfes zu sehen: dichte schwarze Haarlocken und etwas von der blassen Stirn.
Auf dem für zwei Fahrzeuge ausgelegten Abstellplatz parkte Maurer den Oldsmobile mit der hinteren Stoßstange zur Rückwand des Hauses ein. Auf dem anderen Platz stand ein mausgrauer Peugeot 203 in der gleichen Richtung eingeparkt, er war leer. Der 203 hatte spanische Kennzeichen. An den Kennzeichen des schwarzen Oldsmobile konnte man erkennen, daß der Wagen in den Vereinigten Staaten, in Florida, zugelassen war.
Maurer stieg aus dem Wagen, verriegelte die Türen nicht, schenkte dem Peugeot keinerlei Beachtung. Er ging von dem angebauten Vordach weg zur Vorderseite des Hauses. Dazu mußte er zunächst an der Hausseite entlang auf den Ozean zugehen, hinter ihm türmten sich fahle, mit dunklen Gräsern bewachsene Dünen auf, über ihm ein kobaltblauer und messingfarbener Himmel.
Maurer war jung, sicherlich nicht älter als 25 Jahre. Er war groß, breitschultrig, trug derbe blaue Leinenhosen, Springerstiefel, eine blaue Seemannsjacke über einem dünnen schwarzen Rollkragenpullover. Er hatte ein kantiges Gesicht, ein kräftiges Kinn, fleischige Lippen, eine gerade Nase zwischen hohen Backenknochen. Stahlgraue, etwas schrägstehende Augen mit fast farblosen Augenbrauen und eine hohe Stirn. Der Nacken und der Schläfenbereich waren ausrasiert. Oben auf seinem Kopf kräuselte sich sehr kurzes und dichtes strohblondes Haar.
Der junge Mann vernahm plötzlich ein Geräusch, das sich so anhörte, als ob jemand schnell und kräftig einen Korken aus einer Flasche zöge, dann klirrte etwas, und er sah vor sich kleine Glasstücke in den fahlen Sand fallen. Ohne langsamer zu werden, warf er den Kopf in den Nacken und sah zu dem einzigen Fenster an der Seitenwand hoch, an der er gerade entlangging. Es war in der ersten Etage und wie die wenigen anderen Fenster des Hauses mit Holzläden verschlossen. Maurer lief schneller und beugte den Kopf wieder nach vorn. Mit vier großen Schritten war er um die Ecke und an der Eingangstür des Gebäudes. Im Laufen hatte er zwei Knöpfe seiner Jacke aufgemacht; er griff mit der rechten Hand in das Revers, mit der Linken öffnete er die Tür, stieß sie sacht auf und trat sofort zur Seite, lehnte seine linke Schulter an die weiß verputzte Außenwand, riskierte dann einen Blick durch die Tür, denn durch das träge Rauschen des Ozeans konnte er nur schlecht etwas hören.
Ein Wohnzimmer nahm fast das gesamte Erdgeschoß ein, im Dämmerlicht erkannte man einen ziegelroten Fliesenboden, bunt zusammengewürfelte Bambussessel, zwei verblichene Stoffsofas, einen Haufen alter, zerfledderter Zeitschriften auf einem ovalen Couchtisch, um den Korbstühle standen. Weiterhin einen leeren Kamin, geometrisch gemusterte Vorhänge, aus Magazinen herausgerissene und mit Reißzwecken an die weißlichen Wände geheftete großformatige Schwarzweißfotos von verschiedenen spanischen Fußballmannschaften. An zwei Stellen hingen nackte Glühbirnen an Stromkabeln von der Gipsdecke. Es war niemand zu sehen.
Gegenüber der Eingangstür führte eine steile, gerade Treppe in die erste Etage hinauf und mündete in eine offene Deckenklappe. Maurer hörte oben Schritte, betrat schnell das Haus, und ging nach links, weil er dort den Eingang zu einer kleinen Küche gesehen hatte, die durch eine dünne Wand vom Wohnzimmer abgetrennt war. Doch ein Mann in einer langen schwarzen Lederjacke und mit einer schwarzen Wollmütze kam, mit den Händen in den Taschen, die Treppe herunter und sah Maurer, bevor dieser die Küche erreicht hatte. Es war weder Branko noch Balázs. Maurer blieb stehen.
«Guido», sagte er. (Der Gruß klang weder erstaunt noch erfreut.)
«Programmänderung. Ich bleib bei euch. Die anderen sind oben. Mach die Tür zu», befahl Guido, als er die Treppe hinunter- und weiter auf Maurer zukam; dieser streckte sein rechtes Bein aus, stieß die Tür mit einem Fußtritt zu, ohne Guido dabei aus den Augen zu lassen oder die Hand aus dem Revers zu nehmen.
Guido nahm nun die Hände aus den Taschen. Er trug OP-Handschuhe und hielt in seiner Rechten eine halbautomatische Sauer-Pistole Modell 38, eingerichtet für Kaliber .380, mit Schalldämpfer und schoß genau in dem Augenblick auf Maurer, als dieser mit einem Ausfallschritt wie ein Fechter auf ihn zustürzte.
Parang ist der malaiische Name für ein Kurzschwert, das an Klinge und Griff mehrmals funktionsgerecht gewölbt ist und drei verschiedene Schneidschärfen hat. Der Parang ist, wie die Machete in Lateinamerika oder der Bolo auf den Philippinen, ein gutes Buschmesser. Mit dem Parang kann man auch Muscheln öffnen und Wild enthäuten oder sich künstlerisch betätigen, zum Beispiel Holz oder Knochen bearbeiten. Man kann ihn als Waffe benutzen. Ein guter Parang hat eine etwa 30 Zentimeter lange Klinge. Die Schneide ist größtenteils so scharf, daß es sogar gefährlich ist, die Hülle festzuhalten, wenn man mit der anderen Hand die Waffe zieht. Denn die Klinge kann die Hülle zerschneiden und die Hand durchtrennen. Vorsichtige Malaien tragen ihren Parang deshalb in einer Holzscheide.
Maurer riß, während er wie ein Fechter auf Guido zustürzte, den 45 Zentimeter langen Parang hervor, den er unter dem linken Arm in einer Segeltuchhülle trug, die ihm bis zum Oberschenkel reichte.
Die Klinge zerschnitt die Hülle genauso mühelos wie den Jackenstoff. Sie vollführte ihre Bahn von unten nach oben, während Maurer den rechten Arm vorstreckte, und das .380 ACP-Geschoß, das Guido auf ihn abgefeuert hatte, in die linke Schulter bekam, was sich anhörte, als ob man schnell und kräftig den Korken aus einer Flasche zöge.
Guido verstand sein Handwerk. Er hatte den Bauch anvisiert, das ist am sichersten, doch da sich Maurer ziemlich tief geduckt hatte, war das Geschoß in die Weichteile unterhalb des Schlüsselbeins eingedrungen, hatte das linke Schulterblatt durchschlagen, war am Rücken durch die Jacke wieder ausgetreten und dann in der Küchenwand verschwunden. Der Parang durchtrennte Guidos Handgelenk, die Hand und die Sauer fielen auf den Fliesenboden. Beim Einschlag der Kugel knickte Maurer mit dem linken Bein weg, so daß die scharfe Spitze des Parangs letztlich nur noch Guidos Kinnspitze erwischte und sie bis zum Knochen aufschnitt. Als Maurer weiter vorpreschen wollte, fiel er auf sein rechtes Knie. Er stand wieder auf. Guido wich zurück zur Treppe. Schweigend. Mit entsetztem Blick. Aus seinem Handgelenk floß viel Blut auf den Boden. Maurer erwischte Guido, als dieser auf den ersten Treppenstufen zusammensackte. Maurer wollte ihn enthaupten, bevor er schreien konnte. Doch Maurer wankte. Der waagerecht geführte, kräftige Hieb, der Guidos Hals durchschneiden sollte, traf lediglich die Kehle des Einhändigen, ohne den Kopf vom Rumpf zu trennen. Guido schien wie ein Faltrollo zusammenzuklappen, das gespaltene Kinn kippte auf den offenen Hals, der Oberkörper sackte auf die Schenkel, schließlich fiel er vornüber, zur Seite und blieb so, zweimal gefaltet, reglos auf dem ziegelroten Fliesenboden liegen. Die Blutlachen aus seinem Handgelenk und aus seinem Hals wurden größer und flossen ineinander. Außerdem waren überall im Zimmer scharlachrote Spritzer zu sehen.
Da der erhoffte Widerstand (der Halswirbel) ausgeblieben war, hatte Maurer unmittelbar nach dem waagerechten Schlag das Gleichgewicht verloren und war hingefallen. Er knurrte, blieb einen Moment liegen, rollte dann in dem Blut zur Seite ab und stand schließlich wieder auf. Er ging zu der Hand, die im Handschuh steckte und die Pistole hielt. Er kniete sich mit einem Bein hin, knurrte und verzog das Gesicht, legte seinen klebrigen Parang auf den Fliesen ab, löste die Sauer aus der Hand. Als er wieder aufstand, verkrampfte sich sein Gesicht vor Schmerzen. Den Parang hielt er in seiner linken Hand, die schlaff herunterhing, die Schußwaffe in seiner Rechten.
Es waren noch nicht einmal dreißig Sekunden vergangen, seit Guido auf Maurer geschossen hatte. Weder der Schuß noch das, was sich danach abgespielt hatte, war lauter gewesen als das Geräusch, das jemand macht, der ein unbeschnittenes Buch auf den Tisch klatschen läßt und dann einige Seiten aufschneidet.
Trotzdem erschien jetzt oben auf der Treppe ein hübscher schlanker Kerl mit sehr dunklen Haaren, braungebrannter Haut, Glenscheck-Dreiteiler und richtete eine lange Reising-Pistole auf Maurer, mit Schalldämpfer wie die Sauer. Der junge Mann schien unschlüssig, er zögerte, Maurer jagte ihm drei .380-Kugeln in den Oberkörper, der junge Schönling fiel tot auf die Stufen und blieb dort liegen.
Nachdem Maurer sich davon überzeugt hatte, daß niemand in der Küche oder im Waschraum im Erdgeschoß war, stieg er die Stufen hoch. Auf seinem Rücken hatte sich der dicke Stoff der Jacke unter dem Austrittsloch der Kugel etwa eineinhalb Handflächen breit mit Blut vollgesogen. Der Mann hörte oben ein Geräusch und blieb reglos stehen. Jemand öffnete ein Fenster, öffnete die Fensterläden, sprang von der ersten Etage auf das schräge Schilfdach der Garage, durchschlug das zerbrechliche Gebilde und landete auf einem der beiden Wagen. Maurer stieg weiter die Treppe hoch, er beeilte sich, aber es fiel ihm schwer. Eine leichte Autotür klappte, anscheinend nicht die des Oldsmobiles. Und dann war tatsächlich das Anlassergeräusch des 203 zu hören.
Unmittelbar darauf wurden durch die Druckwelle die oberen Fenster herausgesprengt, und das Explosionsge-räusch einen Sekundenbruchteil später hörte sich so an, als ob mit einem Schlag zwei Kilometer Blech zerrissen würden.
Maurer stand auf den Stufen, wankte, da er in beiden Händen Waffen trug und sich nicht festhalten konnte, bekam das Fenster aus der Rückwand der ersten Etage samt Rahmen auf den Kopf, eine Wolke aus Gips und Mörtel mischte sich in das Gestöber aus zermahlenem Glas. Die Rückwand des Strandhauses bebte. Dachziegel flogen herum. Der in die Luft geschleuderte Motorblock des Peugeot fiel auf das Dach, durchschlug es und zerkrachte im Obergeschoß auf dem Parkett. Staub und Rauch drangen durch die oberen Fensterlöcher und verteilten sich langsamer, aber raumgreifender als der erste Scherbenstrahl im Haus.
Maurer fiel nicht um. Er schwankte. Der Gips hatte ihm die Haare, das Gesicht, den Oberkörper weiß eingestäubt: Er sah aus wie ein mit Parang und Pistole bewaffneter übergeschnappter Bäckerjunge. Er stöhnte auf und stürzte los. Die Treppe bebte noch, als Maurer über den toten Schönling hinwegsprang und im Rauch und Staub oben durch den Flur und die beiden Zimmer lief. Durch ein völlig zerstörtes Fenster sah er, daß das Garagendach verschwunden war. Von dem 203 war nicht viel übriggeblieben, von dem Fahrer ebenfalls nicht, und es brannte. Der wuchtige Oldsmobile lag auf der Seite, alle Scheiben waren kaputt, die Reifen zerschmolzen; er brannte noch nicht.
Balázs und Branko waren in einem der beiden Zimmer mit einer Schußwaffe getötet worden. Im anderen Zimmer lag das Mädchen hinten vor der Wand am Boden, noch immer in dem Daunenschlafsack, auf dem zwei Einschußlöcher und etwas Blut zu sehen waren. Maurer steckte die Sauer in seine rechte Jackentasche und bückte sich mühsam. Er legte einen Finger an die Halsschlagader des Mädchens. Es lebte noch. Er hob es sich auf die Schulter, stützte sich auf seinen Parang, um wieder aufzustehen, stöhnte vor Schmerz, als er durch das Zimmer bis zur Treppe schwankte, stieg sie behutsam hinunter und verließ schnell das Haus.
Es war Morgen. Vom Feuer stieg eine schwarze Rauchsäule in den blauen Himmel. Maurer ging mit großen Schritten am Ozean entlang. Nach einer Weile verschwand er in nördlicher Richtung am Horizont.
Mehrere Jahre später verließ Maurer eines Morgens in England, in Liverpool, eine Absteige für Matrosen, drei Männer in schwarzen Wachstuchmänteln umringten ihn, einer hielt ihm den kurzen Lauf eines Revolvers ins Ohr und fragte ihn dann: «Wo ist Alba Black?»

  

NACHWORT

«Die Menschen in schweren Zeiten»

Anfang 1989 beginnt Jean-Patrick Manchette seinen Roman La Princesse du sang (Blutprinzessin). Mit diesem Buch will Manchette in die Literaturszene zurückkehren. Denn seit La Position du Tireur Couché, 1980-81 als Fortsetzungsroman in Hara-Kiri erschienen und 1982 in die Série Noire übernommen, hatte der Autor ja kein neues Buch mehr veröffentlicht.
La Princesse du sang sollte zudem einen mehrere Romane umfassenden Zyklus einleiten, der den übergreifenden Titel Les Gens du Mauvais Temps trägt. Manchette hatte diesen Zyklus bewußt derart weit angelegt, um auf eine ihm neue Art die historische Periode, die er umfaßt, behandeln zu können. In einem 1993 von France Culture gesendeten Interview ordnet er das Ende dieses Geschichtsabschnitts, der in seinen Augen eine Wende bedeutet, folgendermaßen ein:
«Ein guter Roman noir ist ein sozialer Roman, ein gesellschaftskritischer Roman, der zwar Geschichten von Verbrechen erzählt, der aber zugleich versucht, die Gesellschaft - oder einen Teil der Gesellschaft - an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit abzubilden. Von meinem Standpunkt aus war dies ein genau umrissener Zeitraum, nämlich der nach 68, und auch wenn meine Schmöker immer in Frankreich spielen, sind sie doch Bestandteil einer Periode, in der die Wiederauflage der Revolution von 68 weiterhin möglich zu sein scheint. Diese Möglichkeit erlischt gegen Ende der siebziger Jahre.»
Das Ende des besagten Zeitabschnitts entspricht dem Beginn dessen, was Manchettes «Schweigen» genannt wurde. Als der Autor erkennt, daß ein Kapitel der Geschichte zu Ende geht, entschließt auch er sich, eines abzuschließen. Er glaubt, nicht mehr so weiterschreiben zu können, wie er es zwischen 1970 und 1980 getan hat, auch den Roman noir nicht. Durch ein Zusammentreffen verschiedenster Faktoren wird er somit, zumindest in den Augen des Publikums, eine geraume Weile in literarisches «Schweigen» versinken - das heißt, er wird eine ganze Zeitlang nur sehr wenig veröffentlichen, und keinen einzigen Roman.
«1980/81 habe ich aufgehört zu schreiben: Ich habe einen letzten Schmöker hervorgebracht, bei dem ich wirklich das Gefühl hatte, eine Periode abzuschließen, eine Periode für mich und auch für die Außenwelt.»
Doch gerade Anfang der achtziger Jahre ist Manchette weiten Kreisen bekannt, bei Kritikern wie bei Lesern von Kriminalromanen, und sogar bei Kinobesuchern, die seinen Namen unter anderem mit drei Filmen, in denen Alain Delon die Hauptrolle spielt, in Verbindung bringen. Sogar in den auflagenstarken Zeitungen und im Fernsehen wird er durchweg als die zentrale Figur beim Wiedererstarken des französischen «Polar» bezeichnet, als Mentor oder Bannerträger einer Schar junger Talente und Erneuerer des Genres. Tatsächlich ist er während der vergangenen zehn Jahren derart unermüdlich tätig gewesen, daß er das Ende der siebziger Jahre in einem Zustand ausgesprochener Überarbeitung und hochgradiger Erschöpfung beschließt. Seit dem Jahr 1971, in dem sein erster Roman in der Série Noire, L'Affaire N'Gustro, veröffentlicht wird, hat er zehn Bücher geschrieben, also jedes Jahr eins, zudem zahlreiche Drehbücher und Filmadaptionen, Kurzgeschichten, ein Theaterstück, Cache ta joie, für die Comédie de Saint-Etienne, Griffu, einen beachtenswerten Comic, der in enger Zusammenarbeit mit dem Zeichner Jacques Tardi entstand; außerdem etwa zehn weitere Werke übersetzt, an mehreren Tageszeitungen und Zeitschriften mitgearbeitet und sogar eine Zeitlang ein Wochenblatt geleitet. Es ist nahezu unglaublich, wie umfangreich und vielfältig sein Schaffen während dieser zehn Jahre war. Nach diesem exzessiven Herumwirbeln stellt er Ende der siebziger Jahre fest, daß auch eine ebenso aufrührerische Epoche, die heilsam hätte sein sollen, zu Ende geht, und er fragt sich ratlos und erschöpft: Wie soll es weitergehen? Wie ist die persönliche Entwicklung, die historische Entwicklung und die Entwicklung der von ihm bevorzugten Form, des Roman noir, miteinander in Einklang zu bringen?
Manchette selbst lehnt die Rolle des «Stars des Neo-Polar» zwar ab, zu dem ihn die Massenkommunikationsmittel mit aller Gewalt machen wollen, wird jedoch immer wieder mit dem Titel «Vater» (wenn nicht sogar «Papst») «des Neo-Polar» bedacht, und dies mit beinahe boshafter Regelmäßigkeit. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr fühlt er sich als großer Altmeister oder als führender Kopf einer Bewegung, die eigentlich kaum etwas mit ihm gemein hat, lebendig mumifiziert. Seine Jahre der Suche, in denen ein neues Projekt in ihm reift, werden je nach Betrachter mit den Worten «Schweigen» oder «Krise» etikettiert. Und immer mal wieder wird er einfach mit einem seiner Lieblingsschriftsteller verglichen: Hat nicht auch Dashiell Hammet nach seinen großen Erfolgen unter einer fast vollständigen Schreibblockade gelitten?
Gab es bei Manchette während dieser Zeit wirklich eine schöpferische «Krise»? Allem Anschein nach nicht. In welcher Verfassung befand sich der Schriftsteller denn, als er zu Beginn der achtziger Jahre das Gefühl hat, seine «Krimi-Jahre beendet zu haben» . Mit La Position du tireur couché war für den Autor ein Endpunkt erreicht, die Suche nach einem bis zum Äußersten abgespeckten, von allem Überflüssigen bereinigten «völlig behavioristischen Stil» gewissermaßen abgeschlossen. Auf diesem Weg fortzufahren, ohne sich zu wiederholen, war also schwierig. Zudem betrachtet Manchette die Welt mit jenem klaren und desillusionierten Blick, den er mit den Situationisten* teilt. Deshalb seziert er die traurige Entwicklung des Kriminalromans auch ohne das geringste Mitleid und ohne jegliche Nostalgie:
«Die meisten gesellschaftlichen Bewegungen der 60er und 70er Jahre sind entweder politisch vereinnahmt worden oder einfach stehengeblieben. Der Krimi hat genau das nachvollzogen. Er ist nur noch eine der allgemeinen Ordnung perfekt angepaßte unbedeutende Kulturware und wird von Autoren beherrscht, denen es um ganz andere Dinge geht als mir.»
Wie kann Manchette mit einem derartigen Blick auf die Welt des Krimis in diesem Genre weiterhin schriftstellerisch tätig sein? Augenscheinlich ist ihm dies nicht möglich, es sei denn, er begehe Selbstverrat. Er muß also eine andere Form, ein anderes Gebiet finden.
Trotzdem will er den über alles geliebten Roman noir nicht aufgeben:
«Ich hänge sehr am Stil des amerikanischen Roman noir, und ich fürchte die literarischen Entwicklungen* des Krimis wie die Pest. [...] Literarischer Dünkel hat mich immer angewidert.»
Diese paradoxe Situation führt ihn also in zwei Richtungen: zum einen die des Broterwerbs, die der Notwendigkeit entspringt, sich Zeit erkaufen zu müssen, um über einen Ausweg nachdenken zu können; zum anderen die der unaufhörlichen Suche nach dem besagten Ausweg.
Somit verdeckt das von der Presse derart hochgespielte «Schweigen» in Wahrheit einen Großteil von Manchettes Begabungen, sein ausuferndes Schaffen: seine Arbeit als Drehbuchautor, Dialogautor oder Bearbeiter für später realisierte oder nicht realisierte Film- oder Fernsehprojekte (Titel in Hülle und Fülle: eine Adaptation von Fatale und À l'abordage für Gérard Jourd'hui; Conquistador zusammen mit Philippe Labro; Aveugle que veux-tu? für Juan-Luis Buñuel; eine Folge der Serie Le Tiroir secret mit Michèle Morgan; Riviera, ein Pilotfilm zur Serie mit einem Privatdetektiv als Helden; Service canon, später Match!; eine Neuverfilmung von The eighth Mrs. Bluebeard, Die achte Mrs. Blaubart, nach Hillary Waugh für Pierre Grimblat; Névrose, ein fantastischer Film; und weitere); die Übersetzungen, da er geschätzte Autoren wie Donald Westlake (Kahawa, ein in Uganda unter der Diktatur von Amin Dada spielender Actionroman, oder Ordo, eine pechschwarze Novella) oder ihm sehr am Herzen liegende Sachen wie den englischen Comic Watchman übertragen möchte; seine Arbeit als Analytiker oder Theoretiker in dem von ihm bevorzugten Genre, dem Roman noir; seine brillanten Artikel zeigen, daß seine Schreibe unvergleichlich bleibt.
Schließlich seine Arbeit als Schriftsteller, denn zwischen 1982 und 1988 entstehen Romanentwürfe, Rohfassungen von Romanen, Romananfänge und halb fertiggestellte Romane:
«Ich habe meine Zeit damit verbracht, zu schreiben und mir dabei zu sagen, daß es nicht geht. Ich habe alle meine Konzepte fortgeschmissen. Ich fand sie, wie soll ich sagen, überflüssig. Ich habe ungeheuer viel weggeworfen. Ich habe versucht, so weiterzumachen, als ob der Schlußpunkt von La Position du tireur couché keiner gewesen wäre, zumindest kein bewußter. Mir fehlte es nicht an Ideen, doch sie alle zerrannen mir letztlich früher oder später. Aber schließlich habe ich doch wieder angefangen, ernstlich zu schreiben.»
Während des «Schweigens», das es den Journalisten derart angetan hat, nimmt das Paradoxon geradezu absurde Züge an, und der Name Manchette wird gewissermaßen zum Zauberstab. Schreibt er etwa einen Artikel, um auf den hochinteressanten Roman von James Ellroy Blood on the Moon (Blut auf dem Mond) aufmerksam zu machen, so wird das Buch zum Bestseller. Übersetzt er einen Comic, erhält er einen Grand Prix beim Festival in Angoulême. Gibt er einer Zeitung ein Interview, so löst das helle Verzückung aus. Seit er «schweigt», ist seine «Aura» so strahlend wie nie zuvor. Die Medien haben statt seiner eine Romanfigur erfunden, die ihnen besser gefällt als der real existierende Mensch. Doch einerlei, er kümmert sich nicht darum und arbeitet weiter, oft amüsiert er sich darüber, als ob er ein B-Movie-Schauspieler wäre, der eine Doppelrolle spielt.
Mitte 1988 hat er genug von seiner Arbeit als Drehbuchautor, mit der er seit der Fertigstellung von La Position du tireur couché hauptsächlich beschäftigt war. Er stellt praktisch jede Tätigkeit als Dialogautor oder Bearbeiter ein und widmet sich von nun an ausschließlich der Umsetzung seines neuen Romans. Bis auf seine regelmäßigen Beiträge in der Zeitschrift Polar wird lediglich die Übersetzung der Romane von Ross Thomas diese mit strenger Disziplin durchgeführte Arbeit unterbrechen.
Ross Thomas und Manchette begegnen sich 1988 in Spanien, der amerikanische Schriftsteller unterhält auf internationaler Ebene Kontakte mit politischen Kreisen und Geheimdiensten; seine Bücher schildern mit Humor eine von etlichen obskuren Mächten beherrschte Welt. Diese Sicht der Dinge gefällt Manchette natürlich, der schon einige Jahre zuvor auf die Bücher von Thomas aufmerksam geworden war. Die beiden Männer freunden sich an; Manchette schlägt vor, einen Verleger für Thomas' Romane zu suchen und diese zu übersetzen. Bis 1995 werden sie ständig im Briefwechsel stehen.
Ross Thomas' Herangehensweise an den Spionageroman hat zweifellos das Konzept des Zyklus Les Gens du Mauvais Temps nachhaltig beeinflußt, als dessen erster Teil La Princesse du sang vorgesehen war. Die Verwendung immer wiederkehrender Personen, die im Laufe der Episoden auftauchen und verschwinden, ein nunmehr internationaler, nicht mehr nur nationaler Handlungsrahmen, geheime Mächte, die eine große Anzahl von Statisten auf dem politischen Schachbrett manipulieren, all diese Elemente finden sich auch im Aufbau des von Manchette ins Auge gefaßten Zyklus wieder. Durch die Lektüre von John LeCarré und, in etwas geringerem Maße, auch von Westlakes Kahawa, hatte sich dem Autor bereits Neuland erschlossen. Mit Ross Thomas' Werk fügt sich das Puzzle zum Bild zusammen: Er glaubt, den Weg für eine Erneuerung seiner Form gefunden zu haben und sein Werk dadurch weiterbringen zu können.
Der Zyklus wird zu Manchettes ehrgeizigstem Vorhaben. Es bleibt nicht mehr nur auf Frankreich oder allein auf die siebziger Jahre bezogen und verbindet Roman noir und politische Geschichte. Im Januar 1991, als er schon zwei Jahre an dem Projekt arbeitet, beschreibt er in einem Interview für die Libération dessen Hauptmerkmale:
«Im Grunde genommen bin ich in meine alten Fußstapfen getreten und zu meinen Jahren des Schreibens, aber auch zu allen vergangenen Jahren überhaupt zurückgekehrt. Ich bin bis zum Jahr 1956 zurückgegangen, ein historisches Datum: Budapest, der Algerienkrieg. Damals war ich zwar noch Gymnasiast, doch ich erinnere mich ganz genau an die Schlagzeilen in den Zeitungen. Ich habe also den kühnen Plan, die Geschichte von jenen Jahren ausgehend aufzuarbeiten und mit den Sechzigern, dem Mai 68, den Siebzigern etc. weiterzumachen. Falls es hierbei ein Grundthema geben sollte, dann wäre das in etwa dieser Satz: ‹Aber wie zum Teufel konnte es nur so weit kommen›?»
Bei seinem ersten Band entscheidet sich Manchette dafür, auf das Konzept eines alten, Ende der siebziger Jahre verfaßten Drehbuchs zurückzugreifen, und verlagert die Handlung nach Kuba, in die Zeit des Castro-Aufstands. Ein ehrgeiziges Buch, von dem der Schriftsteller, Perfektionist wie eh und je, mehrere Versionen verfaßt. Nach den beiden ersten, die an sich schon spannend sind, zerpflückt er jeweils seine Arbeit mit Anmerkungen von erstaunlich dichter Aussage, sichtet alles neu, montiert es neu. Die dritte, Ihnen hier vorliegende Fassung, war die endgültige Version der Blutprinzessin; ihre stilistische Vollkommenheit ist geradezu verblüffend.
1989 schließlich, als er gerade die erste Fassung des Buchs zu überarbeiten beginnt, erkrankt Manchette an Krebs und kämpft dann bis Juni 1995 gegen die Krankheit an. Dabei gibt es Höhen und Tiefen, erträgliche Jahre und weniger erträgliche; so oft er kann, nimmt er die Arbeit wieder auf.
In anderen Momenten jedoch, wenn er von seinen Aufenthalten im Operationstrakt äußerst mitgenommen ist, beschließt er aus eigenem Antrieb, einige Tage in der psychiatrischen Abteilung des Saint-Antoine-Krankenhauses zu verbringen. Im Grunde genommen findet er das amüsant. Einmal gibt er dort sogar ein Interview. Sobald er wieder zu Hause ist, fängt er erneut an zu schreiben. Bis zu den nächsten Warnzeichen.
1991 bringt er den Mut auf und reist gemeinsam mit seiner Frau Mélissa nach Kuba, um für sein neues Projekt zu recherchieren. Denn dort spielt die Blutprinzessin im wesentlichen: Er erkundet mit dem Auto die gesamte Insel, und er fotografiert so viel wie möglich, um alles zu dokumentieren. 1993 gründet er für einige Monate die informelle ikonoklastische «Banana»-Bewegung, in die er einige Freunde aufnimmt; ihre Hauptaktivität besteht darin, bei Demonstrationen den Einsatzkräften der CRS Bananenschalen vor die Füße zu werfen. Dabei gelingt es ihm, einige gute Aufnahmen von verdutzten Polizisten zu machen und gleichzeitig Verwirrung unter den Kräften der Konterrevolution zu stiften. Er ist gerade einundfünfzig Jahre alt. Zwei Jahre darauf stirbt er.
Bereits seit 1965 führte Manchette fast durchgängig Tagebuch. In dicken Schulheften oder auch anderswo notierte er Erlebtes, Gesehenes und «kleine alberne Begebenheiten», sammelte Zeitungsausschnitte aus Le Monde, in denen die Entfremdung unserer Gesellschaft beschrieben wurde, sowie schließlich unterschiedlichste Zitate aus vergangenen Zeiten. Ein eigenartiges Vorgehen, aus dem ein ziemlich großartiges Werk hervorging. In einem kleinen Notizbuch aus dem Jahr 1989, in dem er seinen Romanzyklus in Angriff nimmt, stehen auf der ersten Seite die folgenden zwei Zitate:

«Fünfzig Jahre sind nunmehr verflossen, seit ich Kalif bin. Schätze, Ehrerbietungen, Freuden, alles habe ich genossen, bis zur Neige. Die Könige, meine Rivalen, schätzen, fürchten und beneiden mich. All das, was die Menschen sich gemeinhin wünschen, wurde mir vom Himmel gewährt. In diesem langen Zeitraum scheinbarer Glückseligkeit habe ich die Tage zusammengezählt, an denen ich wahrlich glücklich war: Es sind vierzehn an der Zahl. Sterbliche, achtet daher die Größe, die Welt und das Leben.»
Abd ar-Rahman III., Kalif von Córdoba (889-961)

«Ist ja typisch.»
Bud Boetticher, Ride Lonesome, 1959

Im Grunde sagt dies alles. Und trotz alledem wird es Manchette nicht davon abhalten, bis zu seinem Tod zu schreiben.
All jene, die sich an seinem «Schweigen» ergötzt haben, jene, die ihn bereits zu Lebzeiten zum Fossil machen wollten, all jene werden nun behaupten, er habe Angst davor gehabt, sein Buch letztlich fertigzustellen, weil er die Reaktionen der Kritiker und des Publikums fürchtete, und dieses Werk von vornherein als postumes geplant.
Hätte er es noch erlebt, daß sein vollendetes Buch gedruckt, verkauft, gelesen wird, er wäre wirklich sehr glücklich darüber gewesen – zumindest einen Tag lang.

Doug Headline

 

 



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