Programm Kriminalromane
Der Auftrag für Thompson scheint einfach: Der kleine Neffe eines millionenschweren Architekten soll aus dem Weg geräumt und der Mord dem Kindermädchen, der jungen, angeblich nicht zurechnungsfähigen Julie, angehängt werden. Doch alles läuft schief. Der Junge und Julie können dem Killer entkommen. Nun wird der Job für Thompson zur Obsession: Eine erbarmungslose Hetzjagd quer durch Frankreich, ein wahnwitziges Duell zwischen Julie und Thompson beginnt. Ein Thriller ohne Pause, keine Chance, Atem zu holen. Überraschende Wendungen, ausgewählte Schauplätze und ein furioses Finale lassen «Tödliche Luftschlösser» zu einem der spannensten Manchette-Romane werden.
Verfilmt von Yves Boisset, mit Marlène Jobert.
// GRAND PRIX DE LITTÉRATURE POLICIÈRE
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(Ihre Bestellung wird ausgeführt durch die Germinal Medienhandlung GmbH.)
Tödliche Luftschlösser
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Der Mann, den Thompson töten sollte, ein Päderast, der schuldig war, den Sohn eines Industriellen verführt zu haben, betrat sein Zimmer. Als er die Tür hinter sich schloß, blieb ihm gerade noch Zeit, beim Anblick Thompsons, der dicht an der Wand neben den Türangeln stand, aufzuschrecken. Dann stieß ihm Thompson ein starres Sägeblatt, das in einen dicken zylindrischen Griff einmontiert und mit einem kreisrunden Stichblatt aus Blech versehen war, ins Herz. Während das Stichblatt das hervorschießende Blut zurückhielt, bewegte Thompson den zylindrischen Griff kräftig hin und her, und das Herz des Homosexuellen wurde in zwei oder mehr Teile zerschnitten. Das Opfer öffnete den Mund, zuckte einmal krampfartig zusammen, stieß mit dem Hinterteil gegen den Türflügel und fiel tot vornüber. Thompson machte einen Schritt zur Seite. Die Leiche hinterließ auf seiner Hand eine Spur Lippenstift. Angewidert wischte Thompson sie ab. Seit einer halben Stunde waren seine Magenkrämpfe fast unerträglich geworden. Er verließ das Zimmer. Niemand hatte ihn hineingehen sehen, niemand sah ihn herauskommen. Es war zwei Uhr nachts. Um elf hatte Thompson eine Verabredung in Paris. Er ging zu Fuß zum Bahnhof Perrache. Die Krämpfe machten ihm schwer zu schaffen. Der Killer beschloß, den Beruf aufzugeben. Bald. Es wurde jedesmal schlimmer. Seit gut zehn Stunden hatte er nichts mehr zu sich nehmen können. Jetzt, da er getötet hatte, quälte ihn ein ekelhafter Hunger. Er ging schließlich ins Bahnhofsrestaurant. Er bestellte eine Sauerkrautplatte, und schlang sie hinunter. Er fühlte sich besser. Er bestellte noch eine Sauerkrautplatte und genoß sie. Sein Magen war besänftigt. Und sein Kopf ebenfalls: Thompson hatte soeben ein nettes Sümmchen Geld verdient. Es war drei Uhr. Der Killer bezahlte, ging zu seinem grauen Rover, der vor einer Parkuhr stand, und fuhr in Richtung Autobahn A 6.
Später hielt er auf einem Parkplatz zwischen Lyon und Paris an und döste bis zum Morgengrauen.
Pünktlich um elf Uhr morgens erschien er zu seiner Verabredung. Der neue Kunde hatte eine dunkle Brille aufgesetzt, und Thompson mußte über diese kindischen Spielchen lächeln. In einer Nische tranken die beiden Männer schottisches Bier. Der neue Kunde legte ein Foto verdeckt auf den Tisch.
«Die Sache wird ein bißchen kompliziert sein», sagte er. «Es müßte aussehen wie ein... Ich werde es Ihnen erklären. Was ist los mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?»
Thompson massierte sich den Magen.
«Geht schon, geht schon», behauptete er.
Thompson drehte das Foto um. Es war in Farbe und zeigte das Brustbild eines rothaarigen Kindes mit mürrischem Gesichtsausdruck.
«Stört Sie so was?
«Überhaupt nicht», sagte Thompson.
Es war sein Magen, der ihn störte. Es ging wieder los. Er hatte wieder Schmerzen.
EINS
Es war ein schwarzer Lincoln Continental. Durch die getönten Seitenscheiben konnte man die Insassen nicht erkennen. Der Wagen hatte einige Mühe, die engen Kurven der kleinen Straße zu nehmen. Ringsum nur Wald. Eine Vielzahl von Buchen, ein dicker Teppich aus welkem und verfaulendem Laub, der bis auf die Straße reichte.
Zur Rechten tauchte eine Allee auf, in der Mitte einer ungefähr fünfzig Meter breiten Schneise. Zu beiden Seiten dieser Allee war der breite grasbewachsene Seitenstreifen von weißen Steinpfosten gesäumt, die eine dekorative Kette miteinander verband. Um in die Allee einzubiegen, mußte der Lincoln zunächst nach links ausholen, bis er zur Hälfte auf der Gegenfahrbahn war; dann bog er ab und flitzte über den körnigen weißen Belag dahin. Kieselsteine und Staub spritzten innen gegen die Kotflügel.
Die Allee führte schnurgerade zu einem Landsitz im Louis-XIII-Stil. Runde Ecktürme. Ein Turm stand im Wasser, und Seerosen schwammen unter seinen Fenstern. Der Lincoln fuhr langsamer. Der Landsitz kam näher.
Er war von einer weiten Grasfläche umgeben. Hier und da führten Pfade in den Wald. Spaziergänger waren zu sehen, kleine Gruppen, in lange, rosafarbene, blaue oder pistaziengrüne Kittel gekleidet. Der schwere Wagen kam an einem nach vorn gebeugten jungen Mann mit langen Haaren und Brille vorbei, der seinen blauen Kittel aufgeknöpft hatte, um auf einen Maulwurfshügel zu pinkeln. Er war in die Knie gegangen, um besser zielen zu können. Sehr sorgfältig lenkte er seinen Strahl in das vom Maulwurf gegrabene Loch. Dabei hatte er einen ernsten und boshaften Gesichtsausdruck. Er beachtete das imponierende Auto überhaupt nicht.
Der Lincoln kam noch an anderen merkwürdigen Menschen vorbei. Die Männer waren in Blau, die Frauen in Rosa. Die Personen in pistaziengrünen Kitteln – Männer wie Frauen – machten einen resoluten Eindruck. Offensichtlich handelte es sich um die Angestellten.
Der Wagen fuhr vollends die Allee hinauf und hielt auf einem erhöhten Vorplatz des Schlosses, in der Nähe des Haupteingangs, vor der kurzen, weißen Freitreppe mit zwei Aufgängen. Nachdem er den Motor abgestellt hatte, stieg der Chauffeur aus. Ein untersetzter, ungefähr fünfunddreißigjähriger Mann, Körper und Gesicht rundlich, kurze Bei-ne, Livree aus blauem Tuch, weißes Hemd, rote Krawatte und Mütze. Er nahm die Mütze ab, und sein Haar wurde sichtbar. Es sah aus wie mit dem Nachttopf geschnitten. Der Mann öffnete die hintere Wagentür. Ein Typ gleichen Alters stieg aus. Er trug weit ausgestellte Hosen und eine Safarijacke aus silbrigem Seidensamt. Sein kurzes hellrotes, fast flachsblondes Haar war sehr fein. Sein längliches, intelligentes, ausdrucksvolles und hochmütiges Gesicht erinnerte an Franchot Tone – für diejenigen, die wissen, wer das ist. Seine rosa Haut war mit Sommersprossen übersät, die sich von seinem Teint kaum abhoben. Seine Augen waren seegrün. Er sah aus wie ein Mutant aus einer Fernsehse-rie.
Da landeten prasselnd Kieselsteine auf dem Heck des Lincoln. Der Fahrer und der Rothaarige drehten sich zu dem Werfer um, einem schlechtrasierten Vierzigjährigen in blauem Kittel. Ein pistaziengrünes Mädchen griff schnell ein.
«Werfen Sie Kieselsteine auf den Wagen, Guillaume?»
«Hm.»
«Warum tun Sie das? Wollen Sie ihn kaputtmachen?»
Der Vierzigjährige zuckte mit den Schultern, machte kehrt und lief wütend weg. Das pistaziengrüne Mädchen wandte sich freundlich an die Ankömmlinge.
«Messieurs?»
«Hartog», sagte der Rotschopf. «Ich werde erwartet.»
«Geht’s um einen Zugang?»
«Es geht um einen Abgang. Seh ich wie ein Verrückter aus?»
Das Mädchen lachte.
«Nicht mehr als jeder andere. Sprechen Sie dieses Wort hier nicht aus, Sie könnten damit schockieren.»
«Ich schockiere gern.»
«Sie würden unsere Gäste verletzen.»
«Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Wunsch habe, sie nicht zu verletzen.»
«Wie bitte?» sagte das Mädchen, während es sich, verwirrt durch die Syntax des Satzes, vorbeugte.
«Genug gequatscht», meinte der Rotschopf. «Man erwartet mich. Zumindest sollte man mich erwarten. Ich komme jemanden abholen.»
«Nehmen Sie die Treppe», sagte das Mädchen nun betont sachlich. «Der Empfang in der Eingangshalle ist ständig besetzt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen?»
«Eine Sekunde noch.»
Der Rotschopf begutachtete das Heck des Lincoln. Und richtete sich wieder auf.
«Beschädigt ist nichts. Warum hindern Sie die nicht daran, Steine zu werfen?»
«Selbstdisziplin. Das können Sie nicht verstehen.»
«Blöde Kuh.»
Das Mädchen wurde rot und lächelte.«Das wäre alles», fügte der Rotschopf hinzu. «Zischen Sie ab.»
Das Mädchen ging mit rotem Kopf weg. Und lächelte nicht mehr.
«Bleiben Sie im Wagen», sagte der Rothaarige zu seinem Chauffeur. «Halten Sie die bloß davon ab, Kiesel zu werfen. Schlagen Sie ruhig zu, wenn nötig.»
Der Fahrer setzte sich quer auf seinen Sitz und ließ seine Beine aus der Tür hängen, während sein Chef die weiße Treppe hochstieg und in das herrschaftliche Gebäude ging. In der Eingangshalle war es kühl. Der Rothaarige fröstelte. Der Boden war mit Marmorplatten belegt. An der Längswand der Eingangshalle befanden sich überall Scheintüren, die mit Spiegeln verkleidet waren. Hinter einem Mahagonitisch saß ein dunkelhaariger Mann, Typ Latino, und las Charlie Hebdo.
«Michel Hartog», sagte der Rothaarige zu ihm. «Ich werde erwartet. Ein Termin mit Doktor Rosenfeld.»
«Stimmt. Ich bringe Sie zu ihm.»
Der dunkelhaarige Mann stand auf, ließ seine Zeitschrift auf dem Tisch zurück und ging Hartog voraus. Er öffnete eine Spiegeltür und folgte einem schmalen ausgepolsterten Gang. Er klingelte an einer mit weißem Leder beschlagenen Tür.
«Treten Sie ein», krächzte eine Sprechanlage.
Der dunkelhaarige Typ öffnete die Tür.
«Monsieur Hartog», kündigte er an.
Doktor Rosenfeld ging Hartog mit ausgestreckter Hand entgegen. Die beiden waren ungefähr gleich groß. Rosenfeld zeigte den Ansatz einer Glatze und einen heiteren Gesichtsausdruck, er trug eine Krawatte mit Schottenkaro, keine Jacke.
«Ich freue mich, Sie zu sehen», sagte er.
«Ist das Mädchen bereit?»
«Mademoiselle Ballanger macht sich gerade fertig. Sie wird in einer Minute hier sein. Ich lasse sofort Bescheid geben.»
Er ging wieder hinter seinen Schreibtisch und hantierte an einer Sprechanlage herum. Man war hier in dem Eckturm, der zur Wasserfläche ging. Ein feuchter Geruch drang durch das offene Fenster herein. Hartog trat an das Fenster und schaute hinaus.
«Monsieur Hartog ist da», sagte Rosenfeld. «Wenn Mademoiselle sofort mit ihrem Koffer kommen könnte...»
Die Sprechanlage summte. Rosenfeld schüttelte den Kopf und brach die Verbindung ab. Er warf sich in seinen Sessel zurück und betrachtete Hartog, der griesgrämig auf das Wasser blickte. Der Arzt kramte in seinen Schubladen herum, zog eine Pfeife mit geradem Rohr sowie Tabak der Marke Jean Bart hervor, stopfte seine Pfeife. Um seine Lip-pen spielte ein leichtes Lächeln. Abrupt drehte sich Hartog wieder zu ihm um.
«Ich werde Ihnen einen Scheck ausstellen.»
Der Arzt runzelte die Stirn.
«Eine Spende», beharrte der Rotschopf. «Eine Spende für die Einrichtung.»
«Ja, wenn Sie möchten. Das ist aber nicht nötig.»
«Was Sie hier machen, ist recht interessant.»
«Die Antipsychiatrie, meinen Sie?»
«Ich weiß nicht», sagte Hartog. «Auf Verrückte aufpassen halt.»
Rosenfeld verzog das Gesicht, hätte beinahe etwas gesagt, besann sich jedoch anders, zündete seine Pfeife an. Hartog stützte sich auf die Kante des Schreibtisches, um einen Scheck über zehntausend Franc auszustellen. Als er fertig war, reichte er ihn dem Arzt.
«Das ist viel», meinte Rosenfeld.
«Für mich ist das eine Kleinigkeit», erwiderte Hartog.
ZWEI
Im Festsaal des Landsitzes saß ein Patientenpublikum auf Bänken. Die Unaufmerksamkeit der Pfleger ausnutzend, ließen sie eine Literflasche billigsten Kiravi-Wein herumgehen, aus der sie mit einem Strohhalm tranken. Auf der Bühne bewegten sich ungefähr ein Dutzend Personen hin und her, sangen und musizierten. Es gab ein Schlagzeug, ein Klavier, ein Kornett und ein Tenorsaxophon.
«Aah! Die betörende Wonne der ersten Umarmung!» kreischte der Chor.
Mehrere Zuschauer klatschten pausenlos.
In Julies Zimmer hörte man die fernen Klänge des Konzerts, aber den Text konnte man nicht verstehen.
Der Raum war annähernd kubisch, hatte blaßgrüne Wände und war mit einem weißen Bett, Tisch und Stuhl, einer Jalousie und der Reproduktion eines Gemäldes von Van Gogh, das ein Kornfeld darstellte, ausgestattet. Julie stand neben ihrem Gepäck, einem Pappkoffer und einer Skaitasche. Sie war eine schlanke und große junge Frau mit hohlen Wangen und üppigem sehr schwarzem Haar. Julie hatte eine Haut wie Porzellan und knallrote Lippen. Sie war schön, aber sie sah schockierend aus. Man hätte sie für einen Transvestiten halten können. Ihr Tweedkostüm war zu warm für die Jahreszeit. Und ihre großen bräunlichen Hände standen wie Bündel trocknender Bohnen aus den Ärmeln hervor.
Eine Krankenschwester mit freundlichem Pferdegesicht kam herein.
«Er ist da», kündigte sie an.
«Schon?»
«Wie? Freuen Sie sich denn nicht?»
«Ich habe Angst.»
«Ach kommen Sie, meine Liebe. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Er hat doch den Ruf eines Menschenfreunds.»
«Ja», meinte Julie.
Die Krankenschwester ergriff den Koffer und ging hinaus. Julie nahm die Tasche und folgte ihr. Die beiden Frauen gingen außen herum, um zu dem Eckturm zu gelangen. Es war schönes Wetter. Frühling. An der Vorderseite Landsitzes betrachtete Julie den Lincoln. Der Chauffeur las die Sportzeitung L’Équipe. Er hatte sich eine getönte Brille aufgesetzt und erwiderte Julies Blick.
Die beiden Frauen betraten den Turm durch eine kleine Tür. Ein paar Meter Flur, dann die Polsterung aus weißem Leder, der Klingelknopf, die Sprechanlage.
«Herein, herein.»
Im Büro angelangt, betrachtete Julie eingehend den Rotschopf und wunderte sich dabei über seine Jugendlichkeit und seinen Schickimicki-Anzug. Rosenfeld war aufgestanden, die Pfeife im Mund und nicht mehr so jovial wie sonst.
«Michel Hartog, Julie Ballanger», stellte er kurz vor.
Hartog musterte Julie von oben bis unten.
«Ich schlage vor, daß wir auf der Fahrt miteinander plaudern. Gehen wir.»
«Was? Schon?»
«Sie könnten doch noch eine kleine Runde durch den Park machen», griff Rosenfeld ein. «Nur kurz, um sich kennenzulernen. Es ist ganz normal, daß Julie aufgewühlt ist bei dem Gedanken, uns für immer zu verlassen, nachdem sie fünf Jahre hier gelebt hat. An ihrer Stelle würden Sie auch etwas in Panik geraten.»
«Wohl kaum», erwiderte Hartog. «Los, kommen Sie», fügte er an Julie gewandt hinzu.
«Ich kann Ihnen ein paar Erfrischungen zum Teich bringen lassen», versuchte Rosen-feld es nochmals mit gebrochener Stimme.
Hartog gab sich nicht mal die Mühe, ihm zu antworten. Er ergriff Julies Koffer und reichte dem Arzt die Hand. Dieser drückte sie nur lasch.
«Julie», setzte Rosenfeld an, «ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen...»
«Sehr richtig!» fuhr Hartog grob dazwischen.
Er packte die junge Frau am Ellbogen und zog sie mit zum Ausgang.
DREI
Als der Lincoln anfuhr, drehte sich Julie auf dem Rücksitz noch einmal um. Durch die Scheibe sah sie ihren Analytiker, der ihr zum Abschied winkte, und auch die Krankenschwester, Madame Cécile, die mit einem Taschentuch wedelte. Die beiden wurden kleiner. Die Reifen knirschten auf dem Kies. Dann erreichte der Lincoln die asphaltierte Straße, und der Landsitz schwenkte aus dem Blickfeld und verschwand, der Wagen beschleunigte, seitlich flogen die Bäume und das verrottete Laub vorüber.
Julie bewunderte das Auto. Man hatte den Eindruck, sich in einem Schiff zu befinden. Der Innenraum war mit echtem Leder und Mahagoni ausgekleidet. In die Rückenlehnen der vorderen Sitze waren allerhand Fächer eingearbeitet. Julie ließ ihre Hand über die in das Leder eingelassenen Verschlüsse gleiten.
«Schauen Sie mal», sagte Hartog.
Er öffnete die Fächer. Julie erblickte eine Bar, ein Funktelefon, einen winzigen Fernsehschirm, eine Stenographiermaschine in Miniaturausgabe.
«Das ist kein Zauberschlitten», erklärte Hartog. «So was wird von Menschen gemacht, wissen Sie.»
«Ist aber trotzdem beeindruckend. Ich verhalte mich wie eine bettelarme Frau, was?»
Julie spielte mit den Magnetverschlüssen. Ein weiteres Fach tat sich unter ihren Fingern auf. Darin lag ein Revolver, und Julie hielt ihn für einen Colt. Tatsächlich war es ein kurzläufiger Arminius, eine deutsche Waffe. Die Griffschalen waren aus Plastik, der Revolver sah wie ein Spielzeug aus. Julie machte das Fach schnell wieder zu. Hartog lachte.
«Das ist nur eine Verteidigungswaffe. Tut mir leid, ich bin kein König der Verbrecherwelt.»
«Sie sind ein Seifenkönig.»
Beide lachten.
«Ich bin nicht so, wie Sie es sich vorgestellt haben, nicht wahr?» bemerkte Hartog.
«Bestimmt nicht. Ich hatte einen höflichen alten Herrn vor Augen.»
«Das liegt an meinem Ruf als Menschenfreund. Alle Welt hält mich für einen verkalkten alten Knacker. Möchten Sie ein Gläschen trinken.»
«Das ist mir untersagt.»
«Scheiß drauf!» rief Hartog aus, und Julie blinzelte heftig mit den Wimpern.
Der junge Mann klappte die kompakte Bar auf und schenkte zwei Ballantines auf Eis ein. Einen davon drückte er Julie in die Hand.
«Dédé!» rief er. «Wollen Sie auch ein Glas?»
«Mit Freuden», antwortete der Chauffeur.
Hartog reichte ihm einen Whisky, den der stämmige Mann beim Fahren trank. Der Lincoln fuhr auf die Autoroute de l’Ouest. Und beschleunigte sofort. Er ging bis auf hundertvierzig, hielt diese Geschwindigkeit und blieb beständig auf der linken Spur. Die In-sassen fühlten sich wohl wie in einem Schlafwagen.
«Was denken Sie von mir? Was wissen Sie über mich?» fragte Hartog. «Haben Sie gerade das Gefühl, ein Märchen zu erleben?»
«Ich glaub nicht an Märchen.»
«Gut. Was dann?»
«Sie sind der Seifen-, Öl- und Waschmittelkönig. Sie sind sehr reich und ein Philanthrop.»
«Übertreiben wir’s mal nicht.»
«Sie tun Gutes. Sehr wahrscheinlich versuchen Sie, ein Gefühl von unrechtmäßiger Macht zu kompensieren. Denn Ihr Vermögen haben Sie nicht durch Arbeit erworben. Nur der Tod Ihres Bruders und seiner Frau hat Sie in dessen Besitz gebracht. Sie dürften ein starkes Schuldgefühl entwickelt haben, falls Sie diesen Tod herbeigewünscht haben sollten. Und man wünscht immer den Tod des eigenen Bruders herbei, auf die eine oder andere Art.»
«Kompliment!» murrte Hartog mit tonloser Stimme. «Sind das die Dinge, die man Ihnen in der Irrenanstalt beibringt?»
«Das war keine Irrenanstalt, sondern eine offene Einrichtung. Ich konnte sie verlassen, wann immer ich wollte.»
«Aber Sie sind doch fünf Jahre dort geblieben. Warum?»
«Sie haben meine Akte studiert. Also wissen Sie, warum.»
VIER
Der Lincoln fuhr die Seine entlang. Portugiesen mit Plastikhelmen hantierten dort mit Preßlufthämmern herum. Hartog holte eine Schachtel Gitanes hervor, bot Julie eine an, Julie nahm sie.
«Sie werden nicht allzu viel wiedererkennen. In fünf Jahren, da wurde einiges gebaut.»
«Ich hab davon gehört.»
«Interessieren Sie sich für Städtebau?»
«Nicht besonders. Und Sie?»
«Mehr als das.»
Julie lächelte, während sie den Rauch durch die Nase ausblies.
«Ich weiß, daß Sie selber die Pläne für die Hartog-Stiftung gezeichnet haben», sagte die junge Frau.
«Die Hans-Peter- und Marguerite-Hartog-Stiftung.»
«Aber man nennt sie doch Hartog-Stiftung.»
«Trotzdem ist es die Stiftung Hans-Peter- und Marguerite.»
«Nach Ihrem Bruder und dessen Frau.»
Der Rotschopf nickte. Seine Mundwinkel waren verkrampft. Tabakkrümel klebte an seiner Unterlippe. Seine Zigarette war feucht von Speichel.
«Sie könnten sagen», fügte er hinzu, «daß ich den Wunsch nach dem Tod meines Bruders kompensiert habe, Sie könnten sagen, ich habe ihn durch den Bau der Stiftung kompensiert.»
«Interessieren Sie sich für Psychoanalyse?»
«Nicht mehr als Sie für Städtebau.»
Der Lincoln überquerte die Seine und fuhr durch Neuilly. In der Rue de Longchamp bog er bei einem Gebäude ein, dessen Fassade mit einem Fresko aus Kunststoff verziert war. Tore glitten automatisch vor dem Wagen auf. Der Lincoln schoß über eine zementierte Rampe hinunter in ein unterirdisches Parkgeschoß, in dem zwei VW-Busse, ein Citroën DS 21 und ein Porsche zu sehen waren. Auf einem markierten Platz hielt der Wagen.
«Wir sind zu Hause», sagte Hartog. «Das ganze Gebäude gehört mir.»
Der Chauffeur stieg aus und öffnete Hartog die Wagentür. Julie kletterte ohne fremde Hilfe auf der anderen Seite heraus. Zwischen dem DS und einem der Kleinbusse sah sie plötzlich eine sehr breitschultrige Gestalt in einem weißen Regenmantel mit Achselklappen auftauchen. Der Mann kam schnell mit großen Schritten auf sie zu. In seiner linken Hand hielt er eine zusammengerollte Zeitschrift.
«Mistkerl, Drecksau», stieß er hervor.
Der Fahrer des Lincoln drehte sich rasch um und stürzte sich mit erhobenen Fäusten auf den Mann. Der andere schlug ihm voll in den Magen. Fassungslos hörte Julie den dumpfen Schlag. Die Fäuste noch immer erhoben, kippte der Chauffeur nach hinten, fiel auf den Zementboden und sein Schädel schlug hohl auf.
Hartog wollte wieder zurück in den Lincoln steigen. Der weiße Regenmantel holte ihn ein und knallte ihm die Wagentür ins Kreuz. Hartog stieß einen Schmerzensschrei aus. Der Mann packte ihn am Kragen seiner Safarijacke, zerrte ihn aus dem Fahrzeug und schleuderte ihn zu Boden.
«Hören Sie auf! Hören Sie auf!» brüllte Julie.
Der Schläger schenkte ihr keinerlei Beachtung, holte aus, rammte Hartog seinen Fuß in die Rippen. Der stieß ein Grunzen aus. Sein Gesicht wurde aschfahl. Julie stieg in den Wagen, öffnete das Revolverfach. Durch die offene Tür richtete sie die Waffe drohend auf den weißen Regenmantel.
«Hören Sie auf, oder ich töte Sie!» schrie die junge Frau.
Der Typ schaute sie an. Er hatte ein plattes Gesicht, eine Boxernase, große, ganz hellgraue Augen. Seine Haare begannen sich zu lichten. Gelbe Strähnen hingen herunter.
«Der ist nicht mal entsichert», sagte der Mann.
Er lachte laut auf und verpaßte dem Revolver einen Schlag mit seiner zusammengerollten Zeitschrift. Der Arminius segelte auf den Zementboden. Der Typ zuckte mit den Schultern und machte sich mit großen Schritten in Richtung Ausfahrtsrampe davon. Julie hob hastig den Revolver auf. Sie wußte nicht mehr, was tun, den Schläger aufhalten oder sich um Hartog kümmern, der stöhnend am Boden lag. Während sie überlegte, ging der weiße Regenmantel durch die Tore, die sich automatisch hinter ihm schlossen.
«Hilfe! Ist hier jemand!» rief Julie.
Der Chauffeur rappelte sich schwankend auf. Er massierte sich den Magen.
«Rufen Sie einen Arzt», sagte Hartog. «Ich hab ein paar Rippen gebrochen, das spüre ich. Fassen Sie mich nicht an.»
«Die Polizei», stammelte Julie.
Ihre Zähne klapperten vor Nervosität.
«Nein. Nur meinen Arzt. Aber ein bißchen dalli!»
Nach vorn gebeugt und von Brechreiz geschüttelt rief der Chauffeur über das Funktelefon im Lincoln einen Arzt. Hilflos blieb Julie neben Hartog stehen.
«Ich danke Ihnen sehr, meine Kleine», sagte der Verletzte mit tonloser Stimme. «Seien Sie so nett und räumen Sie den Revolver weg.»
«Das ist ja schrecklich.»
«Sie werden noch ganz andere Sachen erleben.»
Tödliche Luftschlösser
«VERGESST HOUELLEBECQ! [...] Der DistelLiteraturVerlag hat [seine Krimis] jetzt grandios neu übersetzt herausgegeben. Manchette starb 1995 mit 52 Jahren in Paris. Sein Nachname lässt sich mit ‹Schlag mit der flachen Hand› übersetzen. So schrieb er auch. Knallhart, pointiert, präzise. Besessen im Detail, wenn er beschreibt, wie eine Kugel ins Fleisch einschlägt. Dieser Autor bildete nüchtern ab. Gesellschaft, letztlich, und was sie aus Individuen macht. Mit seiner Sozialkritik war er dem französischen ‹Skandal-Autor› um Jahre voraus: Vergesst Houellebecq – lest Manchette. Der liebte das Zitieren anderer Autoren und mischte französische Hochsprache provokant mit Argot. [...] Alle Krimis vereint, dass die Helden keine Hoffnung kennen. Sie sind Teil der Konsumwelt, in der Frieden illusionär und Gewalt erst strukturell, dann konkret ist. Sie können nur überleben. Manchette hat amerikanische und schwedische Meister des Genres an die Wand geschrieben.»
Frankfurter Rundschau
«Very hard-boiled und wenn tatsächlich irgendjemand aus der Gilde der knallharten Krimiautoren nichts für schwache Nerven ist, dann dieser.»
HÖR ZU
«Manchette [...] zeigt in diesem Thriller keine Gnade. Ohne Pause peitscht er die Actin vorwärts: Der Leser hat keine Chance, Atem zu holen. Manchettes Romanfiguren kennen keine Moral und keine Vernunft; der psychopathische Killer, sein Auftraggeber oder das Kindermädchen Julie schrecken vor nichts zurück. Ein unglaublich intensiver, ja geradezu beängstigender Krimi.»
20minuten
«Die oft verfilmten Krimis des Autors bilden sehr wohl ein anerkanntes Gegengewicht zu herkömmlichen Beiträgen dieser Spezies. Themen und Handlungsführung sind stets originell und ungewöhnlich. [...]»
ekz
«[...] Der Plot ist schnörkellos, voll überraschender Wendungen und von extremer Spannung – ein Page-Turner, der den Leser packt und erst mit dem Ende des Romans wieder Atem holen lässt. [...]»
www.krimizeit.de
«[...] Atemberaubend und gnadenlos!»
amazon.de
«[...] Zu den besten Krimis der Série noire des Verlages gehört zweifelslos ‹Tödliche Luftschlösser› [...] So wie Julie und ihr Schützling vom Killer und seinen Helfern gehetzt werden, wird der Leser pausenlos von einer atemberaubenden Szene zur nächsten überraschenden Wendung getrieben. Wie bei allen Krimis von Manchette lässt die Spannung keinen Augenblick nach. Der lakonisch-distanzierte Erzählstil und schwarze Humor Manchettes unterstreichen so manch grausliches Detail der Handlung und die radikalen Ansichten des Autors. Man kann Manchettes Geschichten genial oder scheußlich finden. Unbestritten ist, dass sie einen nie kalt lassen.»
www.evolver.de
«[...] Tempo hat der Roman, das ist der erste Eindruck, die Geschichte rast dahin und man muss sehen, dass man hinterher kommt. Auch die Sätze freilich rasen, vielmehr springen sie, über Stock und Stein, über alle Unebenheiten der Plotlogik hinweg. Atemlos ist, kein Wunder, die Diktion, parataktisch sind die Dialoge. [...] Mit knappen Strichen formt Manchette so, wie nebenbei, Klischeefiguren zu Menschen, nicht per charakterkundlichen Erläuterungen, sondern indem er sie zeigt in den Momenten, in denen sie tun. [...] Man darf mit Recht von einem vielschichtigen Roman sprechen, so schlank er ist, so rasant er ist. [...]»
Crime Corner
«Nun habe ich [das Buch] vor mir liegen und [es] hat einige Stunden höchster Anspannung in mir hervorgerufen. [...] Wenn Sie dieses Buch schon kaufen, dann können Sie auch ‹Westküstenblues› kaufen. Ein Buch ist so schnell durchgelesen, da ist es immer gut, wenn man ein zweites in der Hinterhand hat. [...] Ich habe sie beide gern gelesen.»
www.maigret.de
«Wahnwitz – ein passendes Wort für den Ablauf der Geschichte. Manchette zieht seine Protagonisten in einen wilden Sog aus Skurrilität, Gewalt und Irrsinn, die ihrem blutigen Finale unaufhaltsam entgegensteuern.»
www.maigret.de
«Die Gewalt nimmt ihren Lauf. Manchette inszeniert sie eisig [...], hält sich nicht mit Motivationen auf und mutmaßt nicht über die Psychologie der Figuren. Er übersetzt alles in Action pur. In Manchettes Welt gibt es keinen Trost. Er hat dem Kriminalroman jede Versöhnlichkeit, dem Leser jede Identifikationsmöglichkeit genommen. Das ist nicht schön, aber feine Literatur.»
Sonntagszeitung
«Bereits die ersten zehn Zeilen dieses Thrillers lassen erahnen, dass hier gelangweiltes Gähnen und Appelle an das eigene Durchhaltevermögen garantiert nicht auftreten werden. [...] Die Story lässt keinerlei Chance, Atem zu holen – eine ganze Lektüre-Nacht vergeht mit einem Wimpernschlag. Ein besseres Gegenmittel für laue Feiertagsabende und zuviel Braten im Bauch gibt es nicht. Also ab damit unter den Weihnachtsbaum!»
Express Marburg
«Verschlinge Jean-Patrick Manchettes ‹Tödliche Luftschlösser› [...]»
«Doch [das Kindermädchen] reagiert unerwartet auf den Stress, die Lebensgefahr, und sie zeigt den Bösen, wo der Hammer hängt. Eine tolle Heldin mit Macken. Und der Roman ein toller Action-Thriller, Abenteuer-Thriller. Wie im Kino [...]. Ein wildes, wüstes, blutiges Märchen [...]. Jedenfalls genial, wie immer, Manchettes geschliffener, abgeschliffener, zugespitzter, durch Verknappung ungemein rasanter Stil. Drei Stunden atemlose Spannungslektüre. Wenn ich annerkennend statt abwertend, so sagen darf: Wie im Kino.»
Roberts Krimitagebuch
«Wenn sie der Natur ausgeliefert sind, passieren merkwürdige Dinge mit den Menschen. In freier Wildbahn entwickelt sich ein kaltblütiger Killer in einen steinzeitlichen Jäger [...] Der Killer als Jäger, eine bekannte Figur. In ‹Tödliche Luftschlösser› verleiht ihr der Autor Jean-Patrick Manchette parodistische Züge. Der Killer, äußerlich ein Gentleman, wird von innen quasi aufgefressen, sein Magen verhält sich nur dann ruhig, wenn er seine noch rohe Beute sofort nach dem Erlegen verzehrt. Und die Magenschmerzen des komisch degenerierten Jägers werden noch heftiger, weil sein geplanter Coup nicht klappt: Julie, ein Kindermädchen frisch aus der Nervenheilanstalt entlassen, und der kleine verstörte Peter, ein Millionenerbe, sollen bei einer fingierten Entführung umgebracht werden. Doch die beiden können Thompson und seinen Helfern entkommen, eine mörderische Verfolgungsjagd durch das Massif Central beginnt. In der rasanten Road-Story geht nicht nur eine komplette Kaufhaus-Etage in Flammen auf, Manchette hat auch ein haarsträubendes Finale parat. [...]»
Badische Zeitung
«Der erzählerische Schwung von ‹Tödliche Luftschlösser› erinnert an ‹Fatal›.»
Le Nouvel Observateur
«Nach ‹Nada› ist ‹Tödliche Luftschlösser› vielleicht der beste Manchette.»
La Presse