Programm Kriminalromane

Bei Erinnerung Mord

Daeninckx, Didier

 

[...] Im Schaufenster des Schmuckladens an der Ecke zur Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle zeigte eine beeindruckende Uhr mit Kupferpendel neunzehn Uhr fünfundzwanzig an. Am siebzehnten Oktober 1961.
Genau in diesem Moment übertönte ein schriller Pfiff den Verkehrslärm und das Stimmengewirr, das sich aus der auf den Gehsteigen zusammengedrängten Menge erhob.
Hunderte von Muslimen, die sich in den Cafés, vor den Auslagen der Geschäfte und in den Nebenstraßen des Boulevards verstreut aufgehalten hatten, folgten dem Signal und überfluteten plötzlich die Fahrbahn. In wenigen Minuten stand die Demonstration. Unter den Mänteln kamen auf die Schnelle angefertigte Schilder zum Vorschein, weiter weg wurde ein Transparent entrollt: «Weg mit der Ausgangssperre». Eine Gruppe algerischer Frauen in traditionellen Gewändern setzte sich an die Spitze des Zuges und gab jene gellenden Laute von sich, die man in Frankreich abfällig «you-you» nennt. Mit diesen ständigen Rufen schwenkten sie ihre mit goldfarbenen Fäden durchwirkten Tücher über den Köpfen. Andere Demonstranten, die in den Gängen der Métro warteten, strömten dazu. Mittlerweile waren es mehr als tausend Algerier, die die Kreuzung Bonne-Nouvelle blockierten.
Der Wirt der Brasserie «Madeleine-Bastille» hatte Erfahrung mit solch chaotischen Abenden. Die Eckscheiben seiner Brasserie waren nämlich schon bei zwei solcher Begebenheiten zu Bruch gegangen. Ein erstes Mal 1956, beim Ansturm auf das Zeitungshaus der «Humanité» aus Protest gegen die sowjetische Einmischung in Ungarn. Und das zweite Mal im Mai 1958, im Verlauf einer Kundgebung gaullistischer oder antigaullistischer Kräfte – er wußte es nicht mehr so genau. Unter Mithilfe seiner Kellner und eines Dutzend Stammgästen räumte er Tische und Stühle hinein und begann dann, die großen Fensterscheiben von innen mit breitem Papierklebeband zu sichern, eine während der Bombenangriffe angewandte Technik, die ihre Wirksamkeit bewiesen hatte. Gegenüber ließ das besser gewappnete Zeitungshaus einen eisernen Laden vor seiner Fassade herunter.
Durch das Geschrei neugierig geworden, stieg Roger Thiraud die Stufen des Sträßchens wieder hinunter. Er sah zahlreiche Muslime vorbeiziehen und vernahm deutlich die Parole, die drei Meter von ihm entfernt aus vollem Hals aufgegriffen wurde: «Algerien den Algeriern».
Sie hatten es also gewagt! Der Krieg, der für die große Mehrheit der Franzosen nur eine Abfolge mal euphorischer, mal hohler Kommuniqués war, dieser Krieg nahm nun im Zentrum von Paris Gestalt an. Der Concierge ihres Wohnhauses trat, mitten im Essen unterbrochen, näher. Er hielt seine Serviette noch in der Hand.
«Das ist doch die Höhe! Die meinen wohl, die wären hier in Algier... Ich hoff nur, daß die Armee gleich antanzt, um dieses ganze Fellachen-Gesocks rauszuschmeißen.»
«So fürchterlich sehen die doch gar nicht aus. Es sind sogar Frauen und Kinder darunter.»
«Da sieht man mal, daß Sie sich keine Nachrichten anschauen, Monsieur le Professeur. Plünderungen und Massaker, das sind doch deren Methoden. Und ihre Weiber und Kinder benutzen die dazu, Bomben zu legen. Also, wenn Sie meine Meinung wissen wollen: kein Pardon!»
Roger Thiraud entfernte sich voller Unbehagen. Saïd und seine Freunde befanden sich nun vor dem «Rex». Die Warteschlange für Die Kanonen von Navarone hatte sich in Nichts aufgelöst. Aounit machte sich gerade am Schloß seiner Flandria zu schaffen. Fünfhundert Meter weiter unten, auf halbem Weg zur Opéra, erhielt der Capitaine der Dritten CRS-Kompanie den Befehl, die Demonstration, die sich an der Kreuzung Bonne-Nouvelle formierte, aufzulösen. Die Zweite und die Vierte Kompanie sollten ihrerseits die Brigade der Bereitschaftspolizei verstärken, die in der Umgebung der Pont de Neuilly, wo beachtliche Konzentrationen von «mohammedanischen Franzosen» gemeldet wurden, aufgezogen war. Andere Abteilungen der Pariser Ordnungskräfte waren unterwegs zum Place de Stalingrad, dem Gare de l’Est und dem Place Saint-Michel. Über das Funkgerät des Verbindungswagens wurden laufend die Anweisungen wiederholt: «Zerschlagt die Bewegung, zögert nicht, euch der Waffe zu bedienen, wenn die Situation es erfordert. Jeder einzelne Mann ist berechtigt, im Falle physischer Auseinandersetzungen selbst über die angemessenen Gegenmaßnahmen zu entscheiden.»
Der Capitaine drängte seine Männer in die nachtblauen Berliet-Mannschaftswagen.
«Vergeßt nicht, eure Brillen richtig aufzusetzen. Wir werden mit den Granaten anfangen, aber bei diesem Wind besteht durchaus die Möglichkeit, daß wir auch was davon in die Schnauze kriegen.»
Der Kastenwagen, in dem die Waffen lagerten, war leer. Eigentlich sah das Reglement vor, daß zu Beginn einer Auseinandersetzung lediglich ein Viertel der Leute vollständig bewaffnet sein sollte. Diese Bestimmung war jedoch vorübergehend außer Kraft gesetzt. Man hatte alle vier Granatwerfergewehre sowie die acht Maschinengewehre ausgeteilt.
Capitaine Hernaud gab das Signal zur Abfahrt; die Kolonne fuhr mit aufgeblendeten Scheinwerfern und großem Gehupe den Boulevard Montmartre und den Boulevard de la Poissonnière hinauf, ohne sich um die dortige Einbahnstraßenregelung zu scheren. Die Kolonne blieb an der Kreuzung zur Rue du Sentier stehen. Die CRS-Leute gruppierten sich unter dem Firmenschild der «Zürich» Versicherung, während ungefähr zehn von ihnen die Autos wegscheuchten, die sie von den Demonstranten trennten. Als dies getan war, bildeten die Berliet-Mannschaftswagen eine Barrikade, die die gesamte Fahrbahn versperrte. Unterdessen gingen andere Polizisten hinter den parkenden Wagen in Stellung. Aus dieser improvisierten Deckung heraus feuerten sie die ersten Tränengasgranaten ab. Doch ein heftiger Windstoß trieb die Gase gegen die Häuserfassaden und wehte sie zurück. Der Capitaine befahl, den Beschuß einzustellen; er sammelte seine Truppen vor den Scheinwerfern der Mannschaftswagen. Die Demonstranten begrüßten das Scheitern der polizeilichen Offensive mit Gelächter, allerdings waren manche auch beunruhigt beim Anblick dieser Masse an Soldaten, die bis zu den Knien in glänzendem schwarzen Leder steckten, dieser dunklen Helme mit ihrem blitzenden Metallkamm in der Mitte und der völlig gesichtslosen Köpfe hinter den Bullaugen der Motorradbrillen. Wegen des blendenden Lichts der Scheinwerfer konnte man ihre Waffen nicht erkennen. Natürlich hatten sie jene langen Schlagstöcke aus Holz dabei, so dick wie die Griffe von Spitzhacken und so lang wie Besenstiele, die «Bidules»*, wie auch andere Schlagwaffen, sehr kurze, unheimlich blitzende...
Mit einemmal setzte sich diese ganze enorme Silhouette, von einem langgezogenen Schrei begleitet, in Bewegung. Langsam zunächst und dann immer schneller, bei jedem weiteren Schritt. Es hatte den Anschein, als könnte sie nichts in ihrem Schwung aufhalten; das Hämmern der Stiefel auf den Pflastersteinen verstärkte dieses Gefühl eines unabwendbaren Verhängnisses noch. Die CRSler der vordersten Linie wirkten gigantisch, von den kugelsicheren Westen unter ihren Ledermänteln noch aufgebläht. Doch die Algerier reagierten nicht, vor Verblüffung standen sie einfach wie angewurzelt da. Man spürte förmlich das Schwanken in ihren Reihen; um ihre Verteidigung zu organisieren, war es nun zu spät. Das wurde allen blitzartig klar. Und wie ein Mann wich die Menge zum «Rex» zurück, wo es dann zum Zusammenstoß kam. Die Kolben prasselten auf ihre bloßen, von Armen und Händen nur ungenügend geschützten Köpfe nieder. Ein Polizist warf eine Frau zu Boden und trat mit seinen Knobelbechern auf sie ein; er versetzte ihr ein paar Ohrfeigen und machte sich davon. Ein anderer hieb mit voller Kraft mit seinem Bidule auf den Bauch eines Jungen ein, und zwar so fest, daß das Holz brach. Trotzdem schlug er mit dem scharfkantigsten Stück weiter. Sein Opfer streckte die Hände aus, um sich zu schützen, und versuchte, den Stock zu erwischen. Doch schon bald konnte er seine zerschmetterten Finger nicht mehr bewegen.
Schüsse fielen vor dem Neptuna-Bad, wo ein Berliet stand. Aus dem Innern des Mannschaftsbusses zielten drei Polizisten mit Bedacht auf die Flüchtenden und verfehlten nicht ein einziges Mal ihr Ziel. Ein roter und cremefarbener Ariane, der mindestens zwanzig Meter entfernt parkte und hinter dem sich zahlreiche Muslime verschanzt hatten, war von Einschüssen völlig durchsiebt. Menschen liefen schreiend hin und her. In ihrer Panik stolperten sie über die Körper von denen, die auf den Caféterrassen umgefallen waren und mit blutdurchtränkten Kleidern zwischen umgestürzten Tischen und zerbrochenen Gläsern lagen.
Kaïra und Saïd waren ebenfalls dort in die Schußlinie geraten. Aounit lag auf der anderen Straßenseite auf dem Bürgersteig, neben seinem Moped. Tot oder verletzt. Die Abstände zwischen den Feuersalven wurden größer: eine Stille, die nur vom Röcheln der Sterbenden gestört wurde, trat ein. Nur eine kurze Atempause! Die CRSler formierten ihre Reihen neu und gingen wieder zum Sturm über. Eine ungeordnete Bewegung der Menschenmenge katapultierte Kaïra in die vorderste Linie, unmittelbar vor eine Art Roboter mit Schaum vor dem Mund, der gerade seinen Schlagstock hob. Eine unbeschreibliche, absolute Angst lähmte sie, nahm ihr den Atem; sie spürte, wie ihr das Blut schlagartig aus dem Gesicht wich. Trotz der Kälte überzog sich ihre Gänsehaut mit Schweiß. Sie konnte den Blick nicht von diesem schrecklichen Wesen lösen, das sie töten würde. Die Hand mit dem Schlagstock ging nieder, doch mit einer fürchterlichen Kraftanstrengung sprang Saïd vor sie und schützte sie mit seinem Körper. Die Brutalität des Hiebs warf sie beide um. Doch der Polizist schlug weiter auf Saïd ein. Schließlich hatte er genug. Kaïra befürchtete, die kleinste Bewegung könnte ihren Angreifer vermuten lassen, daß sie noch nicht tot war. Saïd, über ihr, machte dasselbe, dachte sie, jedenfalls bis zu dem Augenblick, da sie erkannte, was das für eine klebrige und scharf riechende Flüssigkeit war, die sich über ihren Mantel ausbreitete. Ihre Angst schien ihr fast leicht, verglichen mit dem ungeheuren Schmerz, der sich noch des kleinsten Atoms ihres Ichs bemächtigte. Schreiend hob sie den Leichnam ihres Freundes hoch:
«Mörder! Mörder!»
Zwei Polizisten packten sie und führten sie zu einem der Omnibusse der Pariser Verkehrsbetriebe RATP*, die requiriert worden waren, um die festgenommenen Demonstranten zum Sportpalast und dem Messegelände an der Porte de Versailles schaffen zu können.
Bloß Lounès war unverletzt geblieben, er versuchte zu erreichen, daß sich die Menge in den vielen kleinen Straßen entlang der Boulevards zerstreut. Zahlreiche Passanten waren den CRSlern behilflich und zeigten ihnen die Portalvorhallen, die Hauseingänge und Schlupfwinkel, wo sich Männer und Frauen, völlig apathisch vor Entsetzen, versteckt hielten.
Es war ungefähr acht Uhr. Auf den Kais unterhalb der Pont de Neuilly setzten sich die zwei unübersehbaren Demonstrationszüge aus Bewohnern der Bidonvilles von Nanterre, Argenteuil, Bezons und Courbevoie in Bewegung. Funktionäre der Algerischen Befreiungsfront FLN* führten sie und reihten die Gruppen, die sich ihnen noch immer anschlossen, ein. Sie waren mindestens sechstausend; die vier Fahrbahnen der Brücke schienen nicht breit genug, um einen fließenden Abmarsch des Zuges zu erlauben. Sie überschritten die Spitze der unter ihren Füßen liegenden Île de Puteaux und drangen nach Neuilly vor. Nicht einer trug eine Waffe, weder das kleinste Messer noch den winzigsten Stein in der Tasche. Kémal und seine Männer überprüften verdächtige Individuen; sie hatten bereits ein halbes Dutzend Typen davongejagt, die nur darauf aus waren, sich zu prügeln. Das Ziel der Demonstration war klar: Sie wollten die Aufhebung der Ausgangssperre erreichen, die seit einer Woche ausschließlich den mohammedanischen Franzosen auferlegt war, und bei der Gelegenheit die deutliche Präsenz der FLN in der Metropole zeigen.
Der Weg war frei; in der Ferne konnten sie den Arc de Triomphe erkennen, der aus Anlaß des Staatsbesuchs von Resa Pahlewi, dem persischen Schah, und Farah Diba angestrahlt war. Wie üblich hatten sich die Frauen an die Spitze gesetzt. Man sah sogar Kinderwagen und herumspringende kleine Mädchen und Jungen. Wer konnte schon ahnen, daß dreihundert Meter weiter unten, im Schutz der Nacht, eine Einheit der Bereitschaftspolizei, unterstützt von einer aus Nordafrikaner bestehenden Hundertschaft harki, auf sie wartete. Als sie bis auf fünfzig Meter heran waren, begann ohne Vorwarnung der Kugelhagel der Maschinenpistolen. Omar, ein Junge von fünfzehn Jahren, fiel als erster. Das Feuer dauerte eine Dreiviertelstunde.

 

*

 

Roger Thiraud war von dem, was sich vor seinen Augen abspielte, gefesselt und entsetzt zugleich. Die leblosen Körper der Demonstranten beanspruchten seine ganze Aufmerksamkeit. Vor allem eine der Leichen, deren aufgeplatzter, grauenerregender, von einem «Schattenmund» des Todes gezeichneter Schädel dünne Blutrinnsale wie flüssige Schlangen entweichen ließ. Gegenüber, auf dem anderen Trottoir, gingen die ersten Besucher des Théâtre du Gymnase verstohlen zu den Glastüren, die von einem Dutzend Mitgliedern des Personals gesichert wurden. Der Intendant des Theaters verfluchte die Umstände, die ausgerechnet den feierlichen Premierenabend eines Stücks von Leslie Stevens, Adieu Prudence in der Bearbeitung von Barillet und Grédy, derart trüben mußten. Noch hatte man Sophie Desmarets die Ereignisse, die die Straßen mit Blut befleckten, verheimlichen können, um ihre Nerven zu schonen, doch die «Freunde», die Zutritt zur Garderobe der Schauspielerin verlangten, würden diese Bemühungen wohl bald zunichte machen.
«Die haben’s wirklich drauf angelegt», sagte ein Passant zu Roger Thiraud.
Er starrte den Mann an.
«Aber die müssen doch versorgt werden, man müßte sie ins Krankenhaus bringen. Die sterben ja alle!»
«Wenn Sie meinen, daß die mit unseren Leuten Mitleid haben, dort unten. Und außerdem haben die zuerst geschossen.»
«Nein, sagen Sie das nicht. Ich bin von Anfang an hier gewesen, ich wollte gerade nach Hause... Die Leute sind weggerannt wie die Kaninchen, mit leeren Händen, die wollten sich nur verstecken, sich schützen, als die Polizei das Feuer eröffnet hat.»
Der Mann beschimpfte ihn und ging weiter.
Der Intendant des Theaters lief die Stufen der Freitreppe hinunter und rief einem Posten der CRS zu:
«Kommen Sie schnell, hier sind mindestens fünfzig von denen in die Bühnentechnik und in die Kulissen eingedrungen. Unsere Premiere fängt in zehn Minuten an, Sie müssen unbedingt einschreiten.»
Der Offizier stellte einen Trupp zusammen, brachte ihn vor dem Portal der Bühnenwerkstätten in Stellung und ließ dann, die Waffe in der Hand, die beiden Flügel öffnen. Ungefähr zwanzig verängstigte Männer kamen mit den Händen im Nacken ans Licht der Straßenlaternen. In einem Gang hinter ihnen stellte man gerade Champagnergläser bereit, mit denen der vorhersehbare Erfolg von Adieu Prudence gefeiert werden sollte.
Roger Thiraud war kurz davor sich einzumischen, doch er fand nicht den Mut dazu. So sah er ohnmächtig mit an, wie ein Autofahrer, der in der Rue du Faubourg-Poissonnière festsaß und einem Verwundeten Hilfe leisten wollte, indem er ihn hinten in seinem Wagen zu verstecken versuchte, brutal zusammengeschlagen wurde.
Auf der anderen Seite, bei dem Rundbau der Post, an der Ecke zur Rue Mazagran, trieb man die Gefangenen zusammen. Zahlreiche Omnibusse waren inzwischen eingetroffen und füllten sich mit Hunderten verstörter Algerier, die vergeblich versuchten, den Schlagstockhieben zu entgehen, mit denen sie die CRSler, die sich vor den Plattformen zu einer Gasse aufgebaut hatten, traktierten. Die RATP hatte nicht mal eine halbe Stunde gebraucht, um den normalen Fahrbetrieb zu unterbrechen und ihre Wagen für das Einsammeln der festgenommenen Demonstranten bereitzustellen. Ein Busfahrer las den «Parisien», während er auf das Signal zur Abfahrt war-tete. Roger Thiraud zählte instinktiv die brechend vol-len Omnibusse, die vor seinen Augen vorüberfuhren. Zwölf. Er schätzte die Zahl der dicht an dicht stehenden, verletzt zusammengepferchten Menschen auf mehr als tausend.
Ein Fotograf begleitete die Polizisten bei den härtesten Aktionen. In regelmäßigen Abständen brachte das Blitzlicht ausnahmslos blutige Schauspiele an den Tag.
Noch ein anderer Mann beobachtete die Szenerie seit Beginn der Demonstration. Die ganze Zeit über stand er unbeweglich in einer dunklen Ecke beim Eingang des Cafés «Le Gymnase». Obwohl er eine Uniform der CRS trug, schien ihn das Treiben seiner Kollegen irgendwie nicht zu betreffen, er begnügte sich ganz einfach damit, genau die Stelle zu fixieren, wo sich Roger Thiraud befand. Schließlich hielt er den richtigen Zeitpunkt für gekommen und trat aus dem Schatten. Er überquerte den Boulevard, näherte sich langsam der Rue Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle; ohne sich um Kälte und Regen zu kümmern, zog er seinen schweren Ledermantel aus und legte ihn über seinen linken Arm. Mit derselben Bewegung drückte er sich seinen Helm in die Stirn und vergewisserte sich, daß seine Brille richtig saß. Auf der Höhe der Rue Thorel blieb er stehen und zog eine Browningpistole aus ihrem Holster. Diese Waffe hatte er bewußt gewählt. Das Modell 1935 war und blieb nach wie vor die gebräuchlichste Dienstpistole der Welt; sie stellte noch immer das Renommee und den Erfolg der «Fabrique Nationale d’Herstal» dar.
Er warf das mit dreizehn Patronen versehene Magazin aus und ließ es mit einem kurzen Schlag gegen die Handinnenfläche wieder einrasten. Dieser Pistolengriff war ihm bestens vertraut; auf zwanzig Meter Entfernung konnte er den gesamten Inhalt eines Magazins in eine zehn mal zehn Zentimeter große Zielscheibe plazieren. Nachdem er die Pistole unter seinem Mantel in die linke Hand genommen hatte, ging er weiter. Es war nicht das erste Mal, und trotzdem begann er plötzlich zu zittern, er mußte die Zähne zusammenbeißen. Doch vor allem mußte er gegen diesen Drang ankämpfen, einfach davonzulaufen, die Dinge nicht zu Ende zu führen. Marschieren, weitergehen, nicht mehr nachdenken...
Nun konnte er Roger Thirauds Gesichtszüge erkennen und sah vor seinem geistigen Auge erneut den Satz Fotografien, den man ihm gegeben hatte. Dieselbe breite Stirn, die Hornbrille, bis hin zu diesem merkwürdigen Hemd mit den angeknöpften Kragenspitzen.
Wie bei den vorherigen Aufträgen entschied sich alles in ganz kurzer Zeit, zu schnell, als daß er selbst verstand, weshalb er sich dem Studienrat nun ausgerechnet von der linken Seite her näherte. Die kleinste seiner Bewegungen entsprach genau dem, was unweigerlich zu tun war, um den Auftrag zu erledigen. Nichts konnte ihn aufhalten. Es war, als hätte er das Nicht-Wiedergutzumachende bereits ausgeführt. Seine Rechte verschwand für den Bruchteil einer Sekunde unter dem Leder und kam, um den Pistolengriff geballt, wieder zum Vorschein. Roger Thiraud schenkte ihm keinerlei Beachtung; der Mann nutzte dies, um sich hinter ihn zu stellen. Plötzlich klemmte er ihm mit dem linken Arm den Kopf ein. Der Mantel wurde auf das Gesicht des Studienrates gepreßt, der seinen Blumenstrauß und die Kuchenschachtel fallen ließ. Verzweifelt packte er die Hand seines Angreifers, um dessen Griff zu lösen. Doch der Mann drückte den Lauf seiner Waffe unbeirrt gegen Roger Thirauds rechte Schläfe, steckte den Finger in den Abzugsbügel und drückte ab. Dann stieß er den Körper nach vorn und trat zurück. Der Studienrat brach mit aufgeplatztem Schädel auf dem Trottoir zusammen.
Bedächtig steckte der Mann die Waffe weg, zog seinen Mantel wieder an und verschwand über die Treppen der Rue Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle.

 

 



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