Programm Kriminalromane
Der neue Fall mit Kommissar Maurice Laice spielt in «China-Town» von Paris. Der schrullige Kommissar wurde erneut versetzt, diesmal von Montmartre in das 19. Arrondissement, ein pittoreskes Quartier, wo rebellierende Jugendliche, asiatische Immigranten und bohemienhafte Bourgeois aufeinanderprallen. Momo ist auf der Suche nach dem Mörder eines alten Chinesen, der beim morgendlichen Tai Chi auf den Buttes-Chaumonts erschossen wurde. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf die reiche Bildhauerin Kyu-Lee, die ein Doppelleben führt, und gerät in die Schußlinie.
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More is less
Maurice Laice ging in die Hocke. Ein Schmerz im Knie verzerrte ihm den Mund, das Gesicht. Das war seine Art, die Toten in den Griff zu bekommen: Prüfen, sich vorstellen, wer den Körper bewohnt hatte, bevor er zur Leiche wurde.
Andenken an zahlreiche lustige Momente – eine Sonne aus Falten erhellte das Gesicht des leblosen alten Chinesen, der ausgestreckt auf dem Rasen lag. In die Blutblase, die von seiner Schläfe ausging, hatte der Drehbuchautor nicht die Antwort geschrieben. In der roten Pfütze auf grünem Grund las Momo-der-Farben-blinde nur den Kontrast braun auf blau, glänzend auf matt.
Maurice hatte immer schon ein starkes Faible für die Alten gehabt. Die Blüte des Lebens. Vielleicht weil er selbst nie alt, noch lächelnd, nicht einmal faltig sein würde. Nur voll von Lachen, das ungenutzt in den Saum seines Unterhemdes eingenäht war. Er fühlte sich verbraucht mit seinen dreiundvierzig Jahren, vier + drei = sieben, die Zahl, die Unglück bringt. Nervös rollte er seinen Zimtkaugummi zwischen Daumen und Zeigefinger und warf ihn in den Abfallkorb. Er hätte sich selbst hinterher werfen können.
Ein alter Chinese, abgeknallt am ersten Schultag, während er unter den Bäumen seine Gymnastik machte. Maurice fürchtete sich schon davor, wie sich das Kapitel fortsetzen würde. Das stank nach Abrechnung. Und Abrechnungen im chinesischen Milieu mußten ebenso schwer zu entschlüsseln sein wie Ideogramme und Grimassen der Sänger der Peking-Oper.
«Er machte wie jeden Morgen sein Tai-Chi mit seiner Gruppe; er kam fast immer als erster», erklärte Roland mit seinem Marseiller Pastis-Operetten-Akzent.
Der Rest des Satzes ging im Heidenlärm eines Krankenwagens unter. Ein verdammtes Durcheinander herrschte im oberen Teil der Buttes-Chaumont. Eine Stafette der Funkstreife und zwei Wagen der Flics mit Blaulicht, das einen fluoreszierenden Schein auf Bäume und Schaulustige warf. Die Uniformierten versuchten, die neugierige Menge fernzuhalten, indem sie mit einem zweifarbigen Band ein Areal um die Leiche abgrenzten. Von allen Seiten Rufe. «Was ist? Wie schrecklich! Wer ist das? Nein, furchtbar!» Wauwaus beschnupperten sich, machten den Rücken krumm, fletschten die Zähne, knurrten, kläfften. «Brav, Bad, brav!» Ein Jogger machte ein mürrisches Gesicht, weil er völlig außer Puste war, preßte die Hände auf den Bauch und hechelte dabei wie ein kleiner Hund, so als ob er gleich sein Bäuchlein gebären wollte. Unter einer großen Linde stand eine Gruppe von kreischenden Chinesen oder Vietnamesen, weiß der Himmel, Frauen mit Eskimogesichtern putzten sich die geschwollenen, sicher auch geröteten Nasen, Momo hätte es nicht sagen können.
Wo war er? Im Central Park? In Taipeh? Irgendwo. Doch nicht zwingend im 19. Arrondissement von Paris. Jogger, Babys, Flics und Chinesen, die dürfte es wohl überall geben.
«Die Kugel hat die Schläfe getroffen, der Tod muß fast unmittelbar eingetreten sein», sagte der junge Arzt von den Antillen im Trainingsanzug, der beim Joggen und seinen morgendlichen Liegestützen gestört worden war. Keiner hatte etwas gehört.
Der Mörder hatte gut gezielt. Ein Profi, ein Auftragskiller, ein Scharfschütze, der geschickt genug war, sich in Luft aufzulösen, keine Spuren zu hinterlassen, nur einen Toten und Augen zum Weinen.
Die Tai-Chi-Anhänger steckten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander. An manchen Morgen hatte Momo sie – stumm, synchron und in Zeitlupe, wie es sich gehörte – Arabesken in die Luft zeichnen sehen, die nur sie selbst lesen konnten. Er hatte Kinder bemerkt, die staunend murmelten «Die machen langsames Ka-rate...», fasziniert von diesen Verrückten, die von einer Ruhe bewegt schienen, die von anderswo kam. Vielleicht gar nicht so falsch, Momo hatte keinen blassen Schimmer; irgendwer hatte ihm mal gesagt, die Amis würden das Schattenboxen nennen. Wozu einen Schatten töten?
Schweigen war jedenfalls nicht das Ding dieser komischen Karatekas. Ihr kehliges Geplapper war bis weithin zu hören und übertönte noch die Ausrufe einiger Europäer, die auch Anhänger dieser chinesischen Gymnastik waren.
Maurice bemerkte sie sofort. Klein und schlank, kerzengerade in ihrem langen beigefarbenen, vielleicht auch gelben Sweatshirt. Unbewegt und stumm. Asiatisch. Um die Fünfzig, nicht wirklich hübsch. Das Gesicht, wie aus Ton geformt, hohe Wangenknochen, Mandelaugen. Eine Alte, eher von der nachdenklichen als von der lustbetonten Sorte, er sollte sich vorsehen. Seit Anna kannte er diese Art von Frau, die imstande war, ihn mitten im Winterschlaf zum Blühen zu bringen. Allerdings gehörte er eher zur Gattung Unkraut. Und das Aufblühen war bei ihm nicht willkommen.
Die besonnene Asiatin fing seinen Blick ein, woraufhin er sofort seine Dienstmarke zückte. Besser, sie wußte es gleich: Er gehörte nicht zu jenen, die durch hübsche Triebe das Leben einer Frau mit grünem Händchen verschönten.
«Faßt mal jemand zusammen?»
Ein Chinese, jünger als der Tote, vielleicht so um die Sechzig, deutete auf einen großen Dürren, der nicht jeden Tag ein Porterhousesteak auf den Teller zu bekommen schien: Er war so blaß, daß er fast grün wirkte.
«Wir treffen uns jeden Morgen hier. Monsieur Trung hatte eine Engelsgeduld, er unterrichtete Anfänger.»
Der tote Alte – Engelsgeduld, Turnschuhe für Kids, das Gesicht eines Weisen – kam jeden Morgen, um gleichmäßig und sanft zu atmen und so seine Rente länger genießen zu können. Man spricht von Lebenshy-giene, von der Arbeit an sich selbst, aber, wie für alles Leben, galt auch hier more is less, da war nichts zu machen, Momo kam nicht los davon.
«Und Sie sind natürlich alle danach gekommen.»
«Ich war die erste», sagte die Asiatin mit den Mandelaugen. «Ich sah ihn am Boden liegen, bin hergelaufen, er war schon tot.»
Sie sprach ein gutes Französisch, sehr bedächtig, versteht sich, und Momo vermied es, ihrem Blick zu begegnen, einen Sonnenbrand hat man sich schnell eingefangen!
Roland-der-Marseiller fühlte sich gar nicht wohl, als er die Mitglieder der Gruppe um Adresse und Telefonnummer bat. Diasporas, Chinatowns, Communitys, all diese Dinge, die man aus Film und Zeitung kennt – der Vietnamese war auf der Hut. Er hatte Saigon im Alter von drei Jahren verlassen. Seine Erinnerungen reichten nur bis Marseille zurück. Er sprach und dachte Provenzalisch, ließ sich zu Hause vollaufen, tröstete sich mit Knoblauchzehen, und sobald man ihn auf Asien ansprach, war er nicht mal mehr mit Stäbchen zu genießen.
Momo zog an seinem Zigarillo wie an einer Sauerstoffquelle und glotzte auf die Füße der dreisten Asiatin. Ihre Sandalen stellten glatte, tadellos angeordnete Zehen zur Schau, mit tee- oder rosafarben lackierten Nägeln, Momo wußte es nicht. Was trieb diese Puppe im Leben, die hier Tai-Chi übte und nicht den Anschein erweckte, als ob sie sich Bürozeiten aufzwingen ließe.
«Wissen Sie, alle mochten Trung», sagte der Bleichling.
«Trotzdem war er tot jemandem lieber», meinte Momo und schnitt eine Grimasse.
In diesem Augenblick: ein Stechen im linken Hoden. Schlecht drauf, der Kerl. Seitdem Anna abgereist war, verlangte sein Hodensack nach Leben. Vor drei Monaten war die Glasbläserin zu ihrem Ex nach Neukaledonien gereist, um ihn über den Tod seiner zweiten Ehefrau hinwegzutrösten. Sie verstand sich auf die Kunst des Tröstens, das konnte Momo bezeugen. Der Krebs würde ihn schnell hinwegraffen, Pech, er würde nicht kämpfen; er hatte nichts von einem Lance Armstrong, nichts von einem gelben Trikot, gehörte nicht zu denen, die selbst die schlimmste Schererei in ein persönliches Wunder verwandeln. Der Ami-Sieger der Tour de France kannte sich da aus, was less is more betrifft. Dieser wundersam Eier-Geheilte war ein fahrender Erfolg, und Momo war ein Desaster auf zwei Beinen.
Die Frau des Toten war gerade eingetroffen. Ganz klein, neben ihren Mann gekauert, ließ sie die kindlichen Hände über das Gesicht des Chinesen gleiten, als wollte sie ihm wieder Leben einflößen. Momo wandte sich ab, er ertrug keine Gefühlsausbrüche. Er ging nicht mehr ins Kino: Einen Mann und eine Frau zu sehen, die sich auf der Leinwand küßten, das bohrte sich wie Stacheldraht in seine Haut; er mußte einfach heulen. Aber er dürfte wohl nicht der einzige Junggeselle sein, dem es schlecht ging. Der Beweis: In den Filmen wurde immer weniger geküßt und dafür immer öfter geprügelt.
Momo hoffte, Aline Lefèvre würde irgendeine höhere Polizei-Charge vorbeischicken, die den Fall übernimmt. Das hatte er verdient. Seine Eier vertrockneten in seinem Slip, Anna betrog ihn mit ihrem Ex am anderen Ende der Welt, wo, Martyrium für seine Phantasie, gerade der Frühling begann.
Er trat zu Roland:
«Ich rufe die Chefin an, um herauszufinden, wer dieses Chaos hier übernimmt.»
Ein mildes Licht ergoß sich über die Bäume der Buttes-Chaumont, und all dieses Grün, das Momo grüner sah, als es tatsächlich war, tat ihm in den Augen weh.
Hunde – kleine, große, alte Beaus, junge Angeber – führten ihre Herrchen an der Leine spazieren. Trotz der extremen Luftverschmutzung, die die Anhöhen erreichte, schwitzten auf den Treppen mit den Rundholzstufen-Imitaten aus Beton mehr Jogger als gewöhnlich in ihren Shorts. Wie jedesmal zu Schulbeginn holten Tausende von Eltern, ihre Automobile aus den Garagen, um ihre in Tränen aufgelösten Kleinen zur Schule zu fahren, und scherten sich dabei einen Dreck um die Luftqualität und die Zukunft der Atemwege ihrer Kinder. Aber trotzdem: die guten Vorsätze hielten noch an, und die Pariser absolvierten ihren Wettlauf gegen Cholesterin und Blutzucker, setzten auf Proteine, versagten sich Butter und Zucker und warteten mit einem Schrecken voll Erleichterung, bis sie sich aus Depression endlich wieder auf die erstbesten Croissants stürzen würden.
Momo verließ den Park, glücklich, wieder die Fassaden zu sehen, die Straßen, die Autos, die Läden, das Leben halt, nicht Dekoration. Bürgersteige, Bäume, am Boden eingezwängt in einen kleinen Kreis Erde, und Pflanzen, die zwischen Pflastersteinen, in Mauerspal-ten sprossen, um stolz ihre runden oder spitzen, glatten oder behaarten, hellen oder dunklen Blätter aufzurichten. Alle möglichen Pflanzen, versessen darauf, einen Platz zu finden, wo keiner war. Momo hätte gerne Nachforschungen darüber angestellt, welcher Wind, welcher Spatzendreck, welches Tomaten-Sandwich den Samen ausgestreut hatte, damit diese widerstandsfähigen illegalen Einwanderer und ihre respektlose Entschlossenheit wachsen.
Die Klänge der Internationale. Momo griff nach seinem Handy. Lefèvre.
«Na, ‹Mehristweniger›, wollen Sie einen auf Exotik machen? Das ist gut für einen Schizo wie Sie.»
«Ihre Sorge um meine geistige Gesundheit verschlägt mir den Atem.»
«Ist das nicht zu Chinesisch für Sie?»
«Ich würde Sie enttäuschen, wenn ich nein sagen würde.»
«Gehen Sie sachte vor, bloß keinen Staub aufwirbeln, die Franzosen mögen die chinesischen Communitys. Haben Sie schon einen Überblick?»
«Nein. Aber für meinen Geschmack habe ich schon genug gesehen.»
«Ich weiß, Sie haben kein Gespür für die Zukunft, ‹Wenigeristmehr›, aber die Zukunft liegt in Asien, alle Welt redet davon!»
«Ich lese die Zeitung. Ganz blind bin ich noch nicht.»
«Na immerhin. Dann wird es Ihnen hoffentlich gelingen, Licht in diese Geschichte zu bringen, Sie haben Grün, aber passen Sie auf, wenn Sie mit Ihren schlechten Augen bei Rot durchfahren, dann sieht es nicht gut aus für Ihre Zulassung.»
Klick! Verdammt! Es hat ihn getroffen! Rotes Licht, grünes Licht und jetzt noch die gelbe Gefahr, das war der Gipfel für einen Farbenblinden. Aline Lefèvre liebte es, ihn zu nerven, das war Doping für ihre Phantasie. Er war der Prügelknabe dieser läufigen Lesbe, die den Orgasmus kultivierte wie andere Fettpflanzen, was für sie freilich kein Hinderungsgrund gewesen war, befördert zu werden, um den Kampf für ein sicheres Paris zu koordinieren. Nachdem sie ihn für zwei Jahre in ein Büro im 18. Arrondissement abgeschoben hatte, verbannte sie ihn ins 19. Die Höchststrafe. Außerhalb von Montmartre fühlte er sich am anderen Ende der Welt, aber sie hatte verfügt: «Sie kennen die Butte und ihre Bewohner zu gut, das ist gefährlich, Sie vervielfachen die Schwierigkeiten, aber wenn Sie sich bewähren, können Sie in den Schoß der Familie zurückkehren.»
Der Schoß der Familie, Maurice glaubte nicht mehr daran. Bis dahin hing er vom Belieben der Lefèvre ab. Außerhalb der Hierarchie, ohne feste Zuständigkeit. Ferngesteuert von Madame. Von seinen gewohnten Funktionen entbunden, glitt er wie ein Drachenflieger unter Sichtflugbedingungen über eine wenig erfreuliche Landschaft hinweg.
Im Bistro an der Ecke kriegte es der Verbannte mit der Angst zu tun. Kein Zweifel. Den wenigen Grips, der ihm geblieben war, in ein Geduldspiel des Fernen Ostens zu stecken, wäre schädlich für seine Gesundheit.
Nach dem dritten Calvados fühlte er sich nicht sicherer, aber immerhin war ihm warm im Bauch, und die Nadelstiche in die getrockneten Feigen, die ihm als Hoden dienten, hatten aufgehört. Auf den Tresen gestützt, faselte ein langer Lulatsch vor sich hin. Seine Firma und seine Frau hatten ihn in einem Atemzug ausgespuckt wie einen Olivenkern. Weder alt noch jung, eher einfach bloß grau, bekam er nur den Staub ab, nie die Sonne oder das Chlorophyll, das erkannte sogar Momo. Ganz im Grau des Unglücks angestrichen, des voll beschissenen Lebens – das Grau der Nerven, die aus den Schienen der Geborgenheit gesprungen waren, legt sich einem um die Kehle und schnürt sie einem zu. Momo gab ihm ein Bier aus und bot ihm ein Zigarillo an, ohne freilich zu erwarten, daß dies für den Typen eine Friedenspfeife wäre, es sollte einfach nur eine Pause, eine Siesta in seinem Kampf mit den Scherereien sein.
More is less
«Krimitipp Juni 2004: Maurice Laice – gesprochen wie das Englische «More is less» – ist der Ermittler der französischen Krimiautorin Chantal Pelletier. Und dieser Name ist Programm: Laice ist ein mehr oder weniger normaler, etwas zu dicker, ganz passabel aussehender, mittelmäßig begabter, bedingt erfolgreicher Mittvierziger, der an der Verderbtheit der Welt leidet, im Kampf gegen das Böse sein Bestes tut und ansonsten immer noch auf die große Liebe hofft.
Die hatte er eigentlich schon gefunden. Aber die polygam veranlagte Traumfrau des Kommissars ist ans andere Ende der Welt entschwunden, wo sie einem Verflossenen durch seine Lebenskrise helfen muß, sehr zum Leidwesen des Ermittlers. Und als wäre seine Lebenssituation nicht übel genug, wird Laice auch noch ins 19. Arrondissement, das Chinatown von Paris, versetzt und von seiner bekennend lesbischen Chefin schikaniert. Arbeit, d.h. Fälle, gibt es genug: Ein alter Chinese ist im Park beim Schattenboxen erschossen worden; eine Bande von Jugendlichen drangsaliert die Bewohner eines gutbürgerlichen Wohnhauses; eine schöne Asiatin scheint in krumme Waffengeschäfte verwickelt. Schnell, aber ohne Aufsehen bei Honoratioren und Politikern zu erregen, soll Laice diese aktuellen Fälle aufklären. Aber das entpuppt sich als höchst schwierig.
Beeindruckend, wie souverän und gewandt Chantal Pelletier diese verschiedenen Ebenen verbindet und wie sprachmächtig und wortwitzig sie von den verschiedenen Fällen des Polizisten – ebenso wie von seinem desolaten Innenleben – berichtet. Chantal Pelletier ist in ihrer Schreibweise von ihrem berühmten Kollegen Daniel Pennac beeinflußt, dessen witzigen Kriminalromane sie zwar immer wieder ihre Reverenz erweist, ihnen dabei aber ganz eigene Entwürfe zum selben Thema, dem Zusammenleben der Kulturen, gegenüberstellt. Dreh- und Angelpunkt ihrer Erzählkunst ist dabei ein raffinierter erzählerischer Kniff: Als Autorin, die einen Mann als Protagonisten wählt, begibt sie sich in die Rolle eines Mannes und kommentiert aus dessen Perspektive den Kampf der Geschlechter. Dies erlaubt so manche erzählerische Kapriole, die ein Mann als Autor sich nicht hätte leisten können. Und es ist darüber hinaus höchst spannend und amüsant, Chantal Pelletiers Binnensicht der männlichen Seele zu verfolgen.
Allerdings bleibt einem trotz aller sprachlichen Akrobatik, trotz aller Situationskomik irgendwann das Lachen im Halse stecken. Die Welt ist tendenziell bekanntlich eher schlecht als lustig, und Maurice Laice wird angesichts all der Gewalt in den Straßen, angesichts all der Korruption und Selbstsucht immer müder. Daß er sich, wie in den Vorgängerromanen, noch einmal erholt, daß er wieder neuen Lebensmut schöpft, das wird immer unwahrscheinlicher. Chantal Pelletiers Serie um den tapsig-sympathischen Kommissar Maurice Laice neigt sich ihrem Ende zu, so scheint es, und ein Happy End ist dabei nicht in Sicht. Auch wenn der Schluß der Geschichte für Maurice Laice letztlich einen befriedigenden Ausgang darstellt.»
Ulrich Noller, funkhaus europa / WDR
«SIE LÄSST IN MONTMARTRE MORDEN: Ein schillerndes Multitalent zwischen schwarzem Humor und traumhafter Eleganz – Die französische Autorin Chantal Pelletier.
Daß es geht, daß es dann doch irgendwie geht! Er staunt selber. Wahrlich, es ist ein täglich wiederkehrendes kleines Wunder, daß Maurice Laice sich aus dem Bett erhebt, sich anzieht und zur Arbeit geht. Denn eigentlich ist ihm das alles zu viel, diese Leichen, diese verstockten Zeugen, diese Lügenhaufen, die man ihm auftischt. So vieles, das er nicht versteht: die versammelten Bausünden im Montmartre-Viertel, das Desinteresse, mit dem Eltern ihre eigenen Kinder strafen, sie so auf die schiefe Bahn schieben, wo sie dann ins Trudeln, ins Rutschen kommen. Und dann noch seine Vorgesetzte, diese Aline Lefèvre, eine lesbische Plaudertasche, immer wieder, obschon ganz ungefragt, ausführlichst Auskunft gebend über ihr Sexualleben. So wird er mehr noch, als es ihn ohnehin quält, an seine eigenen erotischen Sehnsüchte erinnert, an all die Frauen seines Lebens, die er stets nur kurz genießen durfte, aber lange vermissen mußte. Es liegt ein großes melancholisches «Trotzdem» über Laices Tagen, seinen Ermittlungen, seiner ganzen Existenz. Seine Restenergie speist sich aus seiner Restneugierde, seiner Restwürde, die es ihm verbietet, sich von seltsamen Mördern für dumm verkaufen zu lassen. Er kämpft mürrisch, er tut es, ohne um sein Kämpferherz zu wissen. Maurice Laice, dessen Name das Ziel unzähliger anglophiler Namenswitze der Chefin ist (in der Regel nennt sie ihn gleich «Mehristweniger»), spürt zudem einen ganz unromantischen Schmerz in seinen Hoden, der endgültig zum «Generalstreik unter der Gürtellinie» führt.
Es gibt nur einen echten Trost für diesen 43-jährigen Gramgrummelkopf, von dem er aber nichts ahnt. Denn dieser wird in ganz feiner Dosierung von seiner Schöpferin gespendet, der französischen Psychologin, Drehbuchautorin, Schauspielerin und Schriftstellerin Chantal Pelletier. Die mag ihn, sie mag ihn sogar sehr, und sie schildert seine Neurosen auf zärtliche Weise, als gerade noch liebenswert, verleiht ihm einen wehmütigen Charme und führt ihn zu kombinatorischen Höhenflügen, die er sich selbst nie prophezeit hätte. In Laices drittem Fall, der das gängigste Wortspiel gleich zum Titel «More is less» befördert (auf sein Auto wird auch noch die multilinguale Drohung «Mort is laice» gesprüht), gerät der Mann, der nach eigener realistischer Einschätzung «voll ungenutztem Lachen» steckt, in eine Routineangelegenheit, die sich zügig zum Albtraum auswächst. Ein alter Vietnamese, Anleiter einer Tai-Chi-Gruppe, wird beim Frühsport im Park erschossen, eine verwöhnte Görenbande beklaut die eigenen reichen Eltern, andere verwilderte Jugendliche behelfen sich mit weniger eleganter Kleinkriminalität.
Chantal Pelletier ist hier, wie auch schon in den hoch gelobten Vorgänger-Romanen «Der Bocksgesang» (Grand Prix du Roman Noir) und «Eros und Thalasso», wenig zimperlich. Es wird heftig gemordet und kaltblütig vertuscht, aber auch sarkastisch gespottet über Politiker, schleimige Kollegen, TV-Stars und andere Wichtigtuer, die Laice den Tag verleiden könnten, wenn er dieses Geschäft nicht schon ganz allein besorgte. Aus dieser misanthropischen Grundhaltung heraus entwickelt der Mann seine Stärke, seine ganz eigene Unverletzlichkeit. In seinen lichten Momenten schwingt er sich zum Philosophen auf, doch kommentiert er derlei Anflüge mit selbstironischer Lässigkeit.
Chantal Pelletier, 1949 in Lyon geboren, gehört zur neuen Generation der französischen Krimi-Autoren, die sich dem «Néopolar» verpflichtet fühlen. Die Gründer dieser ruppigen Abkehr vom braven klassischen Krimi, dem «Roman policier», waren Jean-Patrick Manchette, Didier Daeninckx, Patrick Raynal und Jean-Bernard Pouy. Allesamt mehr oder weniger links stehend, sehr mißtrauisch gegenüber der als korrumpiert verurteilten «hohen Literatur», erneuerten sie das Krimi-Genre mit einer Mischung aus Sozialkritik und anarchischer Poesie.
Der kleine Heilbronner Distel Literatur Verlag hat gute Kontakte zum Haus Gallimard und macht diese Schätze der «Série Noire» seit den 90er-Jahren auch deutschen Lesern zugänglich. Von der revolutionären Tradition ist bei Pelletier, die von Pouy zum Schreiben ermuntert wurde, einiges zu spüren, wenn auch auf denkbar undogmatische Weise. Sie ist sprachgewandt und witzig, mutig und überraschend in ihren Bildern, geistreich in den Dialogen und brillant in der präzisen, ganz ungeschwätzigen Zeichnung ihres schräg schillernden Personals. Ihr Blick für die traurigen Absonderlichkeiten der Pariser Multikulti-Gesellschaft ist geschult, die Vielzahl ihrer künstlerischen Talente und Erfahrungen kommt ihr bei den lakonischen Volltreffern ebenso zugute wie ein Psychologiestudium. So geleitet sie Laice, der bedauernd konstatiert, dass der Tod «das einzige Ereignis ist, das dazu angetan ist, die Bewohner der Erde zum Nachdenken zu bringen», auf seinen verworrenen Wegen.
Weil eine Festlegung à la «Die Krimiautorin» solchen Frauen fremd und gefährlich erscheint, hat Pelletier, in früheren Jahren in der locker feministischen Theatertruppe der «Trois Jeannes» aktiv, auch noch einen Jugendroman geschrieben, Krimis ohne Maurice Laice – und ein kleines Schmuckstück namens «La visite», das gerade als «Tage mit Romy» in Deutschland erschienen ist. [...]»
Helge Hopp, in: WELT AM SONNTAG
«Chantal Pelletier kann alles, etwa ohne Klischees über die asiatische Gemeindschaft sprechen oder über die neue liberal-anarchistische Bourgeoisie, die jetzt das beherrscht, was noch von Alt-Paris übrig geblieben ist.»
Le Figaro
«Man glaubt, sich auf bekanntem Terrain zu befinden. Irrtum! Man schlittert von einer Überraschung in die nächste. Was wie ein schwarzer Krimi beginnt, entpuppt sich als Alptraum.»
Libération
«Chantal Pelletier kann nicht nur formulieren, sie hat auch eine klare Vorstellung von der dunklen Seite des menschlichen Wesens.»
L’Humanité
«Ein Hühnchen in bitter-süßer Sauce.»
Le Nouvel Observateur