Programm Kriminalromane

In der Hitze von Nizza

Raynal, Patrick

  

Wie soll man nicht schon allein an der Vorstellung von Glück zweifeln, wenn einem bereits am Morgen die Hose den Bauch einschnürt und man den ganzen Tag damit leben muß?
Für einen Flic bin ich ein wenig zu dick.
Ich bin ganz einfach zu dick. Punkt. Vor allem heute morgen. Und die Erinnerung an Orson Welles in dem Film Im Zeichen des Bösen wird mir sicher nicht die Laune verbessern.
Mein Trick besteht darin, das Anschwellen meiner Wampe zu ignorieren, indem ich mich weigere, die Hosengröße zu wechseln, aber ansonsten weite Sachen anziehe. Das schmerzt zwar, hält aber meinen Wunsch nach einer Diät wach.
Am Abend zuvor hatte ich mir mal wieder Im Zeichen des Bösen angesehen. War keine sehr gute Idee gewesen. Die Geschichte dieses dicken Bullen, der Beweise zusammenbastelt, um diejenigen in die Enge zu treiben, die seinem Gefühl nach die Schuldigen sind, hatte mir schon immer Unbehagen bereitet; als ob das Einlegen der Kassette bereits dem Beginn einer Hinrichtung gleichkäme. Ich war in meinem Sessel eingeschlafen, den Kopf voll unanständiger Träume, wie ein Seminarist, der sich vor einem richtig schmierigen Porno halb totgewichst hat.
Gerechtigkeit ist nicht Sache der Flics. Von allen Regeln, die man dir auf der Polizeiakademie für angehende Kommissare beibringt, ist diese wohl die einzige, die du sicher kaum vergessen wirst.

Juliet Berto ist an den Folgen einer langen Krankheit verstorben. Die kleine Chinesin von Godard... Im Gegensatz zu uns Flics ziehen die Medien keine Samthandschuhe an, um dir den Tod in die Fresse zu hauen. Ich wußte ja nicht einmal, daß sie krank war, und jetzt mußte ich mit ihrem Tod klarkommen.
Ich habe das Autoradio ausgeschaltet.
Diesmal war China wirklich tot.
War ich tatsächlich schon so alt, daß ich all meine Idole überleben mußte?
«Ciao, Juliet», brüllte ich.
Eine junge Frau drehte sich um. Allein und reglos unter all den eiligen Leuten, die den Boulevard entlang liefen.
«Du ziehst ja ’ne Fresse!»
«Juliet Berto ist tot.»
«Wer ist das denn?»
«Niemand. Eine Schauspielerin.»
«Aha.»
Braver Berthier. Für ihn waren Schauspielerinnen bloß ein riesiger kosmopolitischer Arsch und Kinofilme das beste Mittel, um vor der Glotze einzuschlafen. Dreißig Dienstjahre hatten ihm die Form und Farbe eines alten Bezirkskommissariats verliehen.
Ansonsten ein guter Flic.
«Was machst du morgen abend?»
«Warum? Hat Eliane Mühe, ihren Schmorbraten loszuwerden?»
Billige Bosheit. Es kommt vor, daß ich mich dazu hinreißen lasse. Oft sogar. An diesem Tag jedoch war Juliet gestorben, und all die Ignoranten oder Gleichgültigen würden zum Trauerzug gehören. Die Bissigkeit würde mir als schwarzes Bonbon am Revers dienen.
«Sie hat Kohlrouladen gemacht. Kommst du?»
Wie ablehnen? Da konnte man auch gleich versuchen, eine Ente zu ersäufen.
«Natürlich. Ich bring den Wein mit.»
«Nicht nötig. Darum kümmert sich schon jemand.»
«Jemand, den ich kenne?»
«Vielleicht. Wirst schon sehen.»
Eine Überraschung. Mütterchen Berthiers Spezialität. Die gute Frau liebte es, die unterschiedlichsten Gäste zusammenzubringen, in der Hoffnung, daß aus dieser Verschiedenartigkeit das einmalige Gespräch hervorgehen mochte, das ihr Drei-Zimmer-Küche-Diele-Bad in die himmlischen Sphären der Salons, in denen klug geplaudert wird, katapultieren würde.
Könnte aber auch sein, daß sie mich schon wieder zu verkuppeln versuchte.
Beim letzten Mal war es mit einer kanadischen Romanautorin, die nach Material über den Korruptheitsgrad bei der Französischen Polizei suchte. Das Dumme war nur, daß sie weder Bullen noch Männer mochte und daß ich so selbstgefällig gewesen war, dies für eine Herausforderung zu halten. Seither habe ich furchtbaren Schiß vor Romanautorinnen und Lesbierinnen.
Offen gestanden hüte ich mich auch vor Kanadierinnen.
«Scheußlich, was?»
Berthier nickte, das Gesicht voller Mitleid. Zwei mit Kaliber 12 zerfetzte Kaufleute sind immer scheußlich, doch man gewöhnt sich letztlich daran. Berthier nicht. Seit er Polizist war, nahm er jeden Mord als persönlichen Trauerfall. Es fehlte nicht viel und er hätte bei jedem Opfer den Sargträger gemacht.
Ein kleiner Juwelierladen in der Rue de la République. Der Räuber war hereingekommen, und der Opa hatte den Ammenmärchen jenes Mistkerls von Waffenhändler geglaubt, der ihm die Knarre verkauft hatte. Einen .357er Magnum; kleiner ging’s nicht. Nach der Größe des Ladenbesitzers zu schließen, dürften seine beiden Arme nicht genügt haben, den Lauf des Revolvers annähernd waagerecht zu halten.
«Sammel die Knarre ein», sagte ich zu Berthier. «Und find mir den Waffenhändler, der ihm die angedreht hat. Diesem Scheißkerl werd ich seinen Beruf schon beibringen.»
«Meinst du nicht, daß du da etwas zu weit gehst, Ray? Er war’s ja nicht, der geschossen hat.»
Eine einzige Patrone für das Paar. Sie dürften ganz eng beieinander gestanden haben. Wie jedesmal, wenn sie dem Leben die Stirn hatten bieten müssen. Eine einzige Patrone für zwei Tote; ein Sparsamer, dieser Räuber. Sparsam und eiskalt.
«Ach, ja? Was machst du denn, wenn dir ein Kerl mit einer 12er Pumpgun auf die Wampe zielt? Dann hebst du brav die Arme hoch und versuchst, dich möglichst unsichtbar zu machen. Obwohl du ein Bulle bist, eine Knarre trägst und sie auch zu benutzen weißt. Nur weißt du eben auch, daß der schlechteste Zeitpunkt, eine Waffe zu benutzen, gerade der ist, wenn ein anderer dich bedroht. Hätte man dem Mann da das erklärt, dann hätte er sich nie-mals diese Kanone gekauft und wär jetzt in aller Ruhe dabei, seiner Versicherungsgesellschaft die Schadensmeldung durchzugeben.»
Ich habe Berthier die Arbeit allein zu Ende bringen lassen und bin ein Bier trinken gegangen. Beim dritten fühlte ich mich der Diätverletzung schuldig genug, um meine Stinkwut zu vergessen. Neben mir schlug sich ein Typ mit Muscheln und Fritten den Bauch voll. Die Fritten waren schön weich und weiß, wie nur die Belgier sie hinkriegen, und der Typ, ein großes Klappergestell, tunkte sie in die Mayonnaise, bevor er sie sich in den Mund stopfte. Alle drei Bissen kippte er einen großen Schluck Weißbier in sich hinein, wobei er mich ansah, als würde er wetten, daß ich es ihm nicht gleichtun könnte. Ich erhob mein Glas auf sein Wohl.
«Das Leben ist ungerecht», sagte er als Antwort auf meinen Toast. «Ich bin sicher, Sie sind einer von der Sorte, die allein schon zunimmt, wenn sie mir nur beim Essen zusieht.»
«Ja», meinte ich. «Und Sie einer von denen, die schon beim Gedanken, eine Mahlzeit auszulassen, ein halbes Kilo abnehmen.»
«Nicht mal. Ob ich esse oder nicht, das Ergebnis bleibt sich gleich.»
«Allein dafür könnt ich Sie hassen», seufzte ich.
Er lächelte. Er erinnerte mich an jemanden. Jemanden aus der unmittelbaren Vergangenheit.
«Kennen wir uns?» fragte ich.
«Eigentlich nicht, aber ich weiß, wer Sie sind, Kommissar.»
«Na, so was! Jetzt sagen Sie nicht noch, Sie wären Krimiautor.»
«Beinahe. Hervé Destouches, Journalist beim Nice-Matin. Zermartern Sie sich nicht das Gedächtnis. Ich bin gerade erst hier angekommen.»
Mit einemmal ist es mir wieder eingefallen. Vorhin, beim Verlassen des Schmuckladens, wäre ich fast mit ihm zusammengeprallt.
«Keine Erklärungen», meinte ich. «Sie wissen ohnehin genauso viel wie ich.»
«Ich hab Ihren kleinen Vortrag eben mit angehört. Erstaunlich aus dem Mund eines Flics. Wenn man Sie so hört, hat der Waffenhändler mehr Schuld als der Mörder selbst.»
«Werden Sie das etwa in Ihren Artikel reinschreiben?»
«Seien Sie nicht so aggressiv, Kommissar. Alle großen Bullen hätscheln die Vierte Gewalt. Noch ein Bier?»
Ich lehnte mit einem Wink ab. Ich hatte Magenschmerzen, und mein Bauch rutschte langsam über den Gürtel.
«Ich bin nicht aggressiv», log ich. «Ich bin auch kein großer Bulle. Die großen sind nicht dick; außer im Fernsehen.»
«Oder im Kino. Erinnern Sie sich an Orson Welles in dem Film Im Zeichen des Bösen. Ich bin sicher, daß Sie den in- und auswendig kennen. Täusch ich mich?»
Wo kam dieser Typ bloß her? Und wer gab ihm das Recht, meine alten Albträume auszuloten? Lächelnd wartete er auf meine Antwort – mager wie ein Geier, der in einem Möhrensilo eingesperrt ist.
«Nein. Und Sie? Womit geilen Sie sich auf? Mit Extrablatt von Billy Wilder? Es sei denn, Sie ziehen den Dokumentarfilm vor. Die Sorte, wo man sieht, wie ein kleines Mädchen Tage braucht, bis es stirbt, dazu noch unter den entzückten Blicken einer Horde von Schmierfinken, die lieber an Ort und Stelle auf den Boden scheißen würden, als auch nur eine Sekunde ihres Todeskampfs zu verpassen. Hab ich recht?»
«Natürlich haben Sie recht. Weshalb sollte mein Beruf sauberer sein als der Ihre? Kein Grund, aus der Haut zu fahren. Nehmen Sie doch noch ein Bier.»
Während wir darauf warteten, bin ich aufs Klo, um die vorherigen wegzuschaffen. Ich habe getan, was ich konnte, um mein Abbild im Scheißhausspiegel zu meiden. Das bißchen, was ich davon gesehen habe, hat mich mehr deprimiert, als wenn ich den Mut aufgebracht hätte, mich ihm ganz zu stellen.
«Wollen Sie mit dem Waffenhändler wirklich Streit anfangen?»
Ich habe mit den Schultern gezuckt. Der Griff meiner Knarre tat mir weh. Er drückte sich mir dort ins Fett, wo es am meisten überquoll. Mir war danach, sie rauszuholen und auf den Tisch zu legen, zwischen Destouches und mich. Sowohl um mir Erleichterung zu verschaffen, als auch um eine absolut primitive Macht zu demonstrieren.
«Sie können mich mal, Destouches. Wenn dieser Blödmann auch nur ansatzweise das Bewußtsein von Berufsethos gehabt hätte, dann wären die beiden armen Alten noch am Leben, und diese verdammte Stadt wäre nicht um einen weiteren Mord reicher.»
«Sie haben meine Frage nicht beantwortet.»
«Ist das wahr? Daran werden Sie sich gewöhnen müssen, mein Lieber. Das ist so ’ne Sache, die sich wiederholen könnte. Danke fürs Bier.»



zurück