Programm Kriminalromane

H4Blues

Pouy, Jean-Bernard

 

So was kann man wirklich eine Pechsträhne, eine richtige Série noire nennen.
Im Flurspiegel mustere ich Detail für Detail, mit dem Blick eines Schlachters, die Gestalt eines Typen, der in derselben Woche seinen Job verloren hat, dem seine Karre geklaut wurde (am Abend zuvor) und der sich gerade fertig macht, um auf die Beerdigung seines ältesten Kumpels zu gehen. Doch der Typ vor mir – dessen Visage von saublöden Postkarten aus Ceylon oder Kerala eingerahmt wird, die aus den letzten peinlichen Urlaubsreisen seines Sohnes stammen – wirkt nicht gerade besonders angeschlagen wegen all dieser schlimmen Vorkommnisse, die ja auch im Vergleich zu Ruanda nicht wirklich schlimm sind. Er kommt mir sogar ziemlich elegant vor, dieser Typ, in seiner feinen schwarzen Leinenjacke, die mich ein bißchen nach Fünfziger-Jahre-Film aussehen läßt, so wie in Mademoiselle Docteur, à la James Mason, den Oberkörper nach rechts geneigt wegen des Beins. Na ja, Bein...
Der Stumpf brennt ein wenig, ist normal, seit zwanzig Jahren jeden Morgen das gleiche. Zwanzig Jahre. Und immer noch nicht daran gewöhnt. Mental ja, aber physisch nicht. Bei einer Stelze weniger vermeiden Sie es auf Abendgesellschaften, daß man Ihnen mit dem Rätsel der Sphinx kommt, das ist immerhin schon mal was.
An diesem Morgen hatte ich mich besonders um ein gepflegtes Äußeres bemüht und mein Holzbein angelegt, ist für den Friedhof eher angemessen als meine Plastikprothese. Eigenartigerweise wirkt das Ding aus Holz mit dem schwarzen Gummiklotz am Ende, der wie ein dickes Lakritzbonbon aus der Hose hervorschaut, würdevoller, sieht mehr nach Pirat aus, diese Veteranen-Note macht Eindruck, zumal wir, also Lionel und ich, schon ein paar Kämpfchen ausgetragen haben. Ernste und groteske.
Esther pennt noch. Ich habe ihr das Frühstück vorbereitet, die Butter wird nicht mehr hart sein, die Milch nicht allzu eisig, sie braucht bloß noch das Wasser für den Tee aufzusetzen, so ist er eben, der liebe, gute Ehemann. Selbst wenn er von nun an arbeitslos ist. Um so besser. Umstrukturierungen haben manchmal auch ihr Gutes. Sie feuern mich zwar, doch mit einer kleinen Rücklage, die mich ganz leidlich bis zur Rente bringen wird, solange ich keinen Blödsinn mache, wie ein neues Paar Rollerskates kaufen oder den Altai zu Fuß überqueren. Und außerdem, dreißig Jahre Korrekturen, das langt jetzt auch, das Verlagswesen kann ruhig ohne mich krepieren. So nach und nach läßt man durch das viele Korrigieren resigniert die Arme sinken. Die Maschinen machen die Arbeit an unserer Stelle. Mit meinen gut und gerne sechsundfünfzig Jahren habe ich mehr und mehr das Verlangen, nur noch eine einzige Sache zu korrigieren: die Welt. Die ethischen Fehler sind wie orthographische oder grammatikalische. Oder eher noch wie Fehler bei der Zeichensetzung. Die Leute können nicht mehr richtig atmen und sich die Zeit nehmen, die eigenen Gedanken zu entwickeln, es fehlt uns an Kommata, Semikola und Doppelpunkten. Und die Welt, die sieht mir ganz danach aus, als würde sie nur den Schlußpunkt kennen.
Ein letzter Blick in den Spiegel. In Ordnung. Papa Nicolas ist tadellos. Zwar deklassiert, dekonstruiert, demoliert, aber präsentabel.

Wie üblich brauchte ich zwei Minuten zehn Sekunden, um die drei Stockwerke hinunterzusteigen, mit meiner Plastikprothese schaffe ich sie in nicht ganz zwei Minuten, seit zwanzig Jahren brauche ich also ungefähr zwei Minuten, wohingegen ich sie vorher, mit meinen zwei Stelzen, locker in dreiunddreißig Sekunden hinuntergestiegen bin. Nicolas, der Einbeinige aus dem Dritten. Der Kerl, dessen Schritte im Treppenhaus man stets erkennt.
Und dann habe ich auf den Bus gewartet. Was will der Blödmann, der mir die Karre geklaut hat, überhaupt mit dieser verrotteten Kiste anfangen, vor allem mit der Lenkradschaltung und der fehlenden Kupplung? Der dürfte schon an der ersten Kreuzung liegengeblieben sein, als er, statt zu schalten, auf die Bremse trat. Vielleicht hatten die Flics den Schlitten ja auch bereits an der Ausfahrt irgendeines Kreisverkehrs aufgefunden, den Kofferraum von einem reifenfressenden Fünfzehntonner plattgemacht. Nun ja, dann könnten sie ihn eben behalten, den R5. Von jetzt an Taxi oder Bus. Die Métro nicht, zu viele Treppen. Ich habe einen empfindlichen Stumpf. Wenn Esther ruhiger geworden wäre, nicht mehr so nervig, und wenn sich dieser Zombie von Bertrand weiterhin in vorhersehbaren Bahnen bewegen würde, könnten wir vielleicht die Wohnung abstoßen, um endlich im Perche das vollkommen ebenerdige Häuschen zu kaufen, das ohne oberes Stockwerk, verdammt noch mal, in der Nähe vom friedlichen, glitzernden Fluß.
Der 67er – Direktverbindung Clamart. Und dann der Friedhof. Die großen Bäume hinter den hohen Mauern. Mitten in der Banlieue die große stille Wüste der Seele, das Grün des Laubwerks und das Grauweiß der Gräber. Den Kies mit einem einzigen Bein zertrampeln, Steinchen mit meinem ganz persönlichen Dampfhammer aus Gummi zermalmen und zu der Ansicht gelangen, daß es in der Gegend an Palmen fehlt. Lionel, schlagartig fiel es mir ein, mochte Palmen sehr. Keiner der Hinterbliebenen hat daran gedacht, den letzten Ruhestätten ihrer teuren Dahingegangenen mit Palmen Schutz zu bieten. Obwohl es doch welche gibt, die sich dem Pariser Klima anpassen würden, man müßte sie im Winter bloß in Stroh packen, so kompliziert ist das doch nicht, das kann man doch an Allerheiligen tun, wenn die Chrysanthemen Demos veranstalten.
Den Weg zum Grab habe ich schnell gefunden, es waren schon Leute da, ein kleiner nachdenklicher Trupp, zusammengeschart bei einer Kapelle mit rostiger Gittertür. Hinkend habe ich mich zur Witwe durchgeschlängelt. Der zweiten Ehefrau meines alten Kumpels. Ich war ihr schon mal vor zwei oder drei Jahren begegnet, ein hübsches Mädchen und viel jünger als Lionel, dem damals so um die Fünfzig die Wechseljahre schwer zu schaffen machten: mit dem Rettungsring, der sich um den Wanst breitmacht, den weißen Haaren, der runzeligen Haut überm Knie – aber mit dem stets nachweisbaren höllischen Charme den Gänschen gegenüber. Auch seine beiden Kinder waren da, die aus erster Ehe, etwa im selben Alter wie mein eigener Sohn. Die anderen Trauernden kannte ich nicht.
Irgendein Typ verlas mit dumpfer Stimme einen Text. Ich habe so ungefähr verstanden, daß es dabei um den Film ging, dürfte irgendein Repräsentant der Cinemathek oder so was in der Art gewesen sein. Beerdigungen mag ich nicht. Früher endeten sie wenigstens mit Schlemmereien, inzwischen aber nur noch mit hohlen Lobhudeleien. Ich bin etwas beiseite getreten. Andere haben das Wort ergriffen, von wegen unser Weg- und Kampfgefährte, blablabla, dann haben die Raben vom Bestattungsinstitut den Sarg in die Grube hinuntergelassen, und einer nach dem anderen hat eine Handvoll trockener Erde in das Loch geworfen und schließlich der Witwe und den Kindern die Hand gedrückt oder die Wangen geküßt. Das übliche von der Gewohnheit inszenierte Theater, dem jeder schon mal beigewohnt hat, die Aufführung, zu der alle eines Tages als Star werden gehen müssen. Der arme Lionel, der ein so paradoxes wie aufregendes Leben geführt hatte, beendete es in einer stinkkonventionellen Zeremonie. Aber gut. So ist das immer. Mit Ausnahme von Victor Hugo und Édith Piaf wüßte ich niemanden, der sich mit einem erhabenen und volkstümlichen Brimborium begraben lassen könnte. Oder vielleicht noch gewisse Frontkämpfer jener in Blut und Asche versinkenden Länder, in denen die Klageweiber der Zeit die Stirn bieten.
Mein Herz war wie aus Stein. Normal, ich konnte mich nicht erinnern, schon einmal geweint zu haben, ich hatte nicht mal ein Gefühl dafür, wie so was sein kann, als Gefühl meine ich. Weder beim Tod meiner Alten. Noch im Kino. Niemals. Obwohl die Drüsen ja funktionieren. Eine gute Zwiebel, und schon läuft es mordsmäßig. Nein. Ich verdränge. Eines Tages wird’s von ganz allein losgehen. Eines Tages.
Der Bewegung folgend, fand ich mich schließlich in der Kondolenzreihe wieder. Ich habe meine Handvoll Erde geworfen und... na also, es fiel mir wieder ein... Véroniques Hand ergriffen.
«Véro, du weißt ja, daß...»
Was kann man bei so einer Party schon sagen? Da gibt es keine Regeln, das geht nur nach Feeling. Irgendein Typ hinter mir hat mich doch glatt geschubst, ich habe mich umgedreht, um diesem Blödmann zu sagen, er solle mal ein bißchen achtgeben auf die Behinderten, aber dann sah ich die dunkle Brille, erkannte die präzisen und die tastenden Bewegungen der Blinden und vor allem die kantige Fresse mit dem spitzen Kinn dieses großen Knallkopfs von Lescot – prämierter Jahrgangsbester in Latein von der Tertia bis zur Prima. Lescot. Blind! Verdammt. Ich habe gewartet, bis er ein paar Meter weitergegangen war, um ihn dann am Ärmel zu greifen.
«Salut, Lescot. Ich bin’s, Bornand. Nicolas Bornand.»
«Bornand... Bornand... Entschuldige bitte, aber wo ich die Gesichter jetzt... Warst nicht du das, der Italienisch gemacht hat?»
«Genau, bei Petrolacci.»
«Salut. Scheiße, wirklich blöd, der arme Lionel. Aber das ist halt so in unserem Alter, da werden wir uns immer öfter auf den Friedhöfen rumtreiben... Hast du noch andere von der Penne gesehen?»
«Eigentlich nicht... Soll ich noch mal nachschauen?»
«Nein, nein, ist nicht nötig...»
Es stimmte, daß ich nicht richtig aufgepaßt hatte. Die Ehemaligen des Lycée, Mit der Zeit geht alles den Bach runter... wie dieser andere Idiot sang, der tatsächlich eine Äffin adoptiert hatte. Daß ich die Brücken zu Lionel nicht abgebrochen hatte, war reiner Zufall. Na ja, auch wieder nicht so ganz. Weil er meine Schwester damals aufs Kreuz hatte legen wollen, kam er zu uns ins Haus und lieh mir sein Solex, damit ich eine Runde drehen sollte, während er herumschäkerte. Das schafft Bande, solche Kuhhandel, und viel später, an der Uni, haben wir sogar mehrere Freundinnen miteinander geteilt. Die eigenartige Zeit des nachpubertären Machismo, jene Jahre, in denen man das schlechte Gewissen der moralischen Verfehlungen noch nicht kennt.
«Ist nicht nötig», wiederholte er.
«Wie ist das gekommen? Also, ich meine, äh... das mit, äh...»
«Vor sechs Jahren. Meine Autobatterie ist explodiert. Angeblich passiert so ein Malheur wirklich selten. Die Säure, und der ganze Mist... Aber, na ja, weißt du, man gewöhnt sich dran... Ist jetzt sechs Jahre her, aber ich hab das Gefühl, es wär schon immer so.»
Ich hatte keine Lust, ihm von meinem Bein und von der Karre zu erzählen, die an einem Sommerabend über mich drüber gefahren war. Rendezvous der Krüppel. Das Defilee zweier Behinderter vor der Leiche ihres Kumpels. War wohl wirklich einer dieser Tage... Gleichzeitig fand ich, daß ich noch Glück hatte im Vergleich zu ihm. Für meine Augen würde ich jedenfalls leichthin meine beiden Beine und einen Arm hergeben.
Eine Frau kam an und nahm Lescot beim Ellenbogen. Sie hat mich gegrüßt, ihre goldenen Ohrringe funkelten, man sah nur noch sie. Sie stellte sich als seine «Feste» vor und fügte hinzu, sie müßten jetzt gehen. Lescot hingegen schien es gar nicht so eilig zu haben, dennoch sind sie den Weg mit dem Versprechen hinunter gegangen, man werde sich bald mal wiedersehen – eine von den Floskeln zu einem Euro fuffzig. Ich fühlte mich unbehaglich, und das war noch ein Euphemismus. Sie würde es ihm sagen, das mit meiner Stelze. Wahrscheinlich würde das dieser ödipialen Reinkarnation, die plötzlich aus meiner schulischen Vergangenheit aufgetaucht war, ein bißchen Balsam auf die Seele träufeln.
Die kleine Gruppe ist dann auseinandergegangen. Ich wollte gerade so langsam wieder aufbrechen, fest entschlossen, vor mich hin zu träumen, alles wieder durchzukäuen, eben all die Dinge zu tun, die man am Ausgang aller mit Toten bedeckten Äcker so tut, auf die das pathetische Brimborium nur so herunterprasselt. Doch da hat sich Véronique, die Witwe, aus dem Knäuel ihrer Nächsten gelöst und mich eingeholt, um sich bei mir unterzuhaken – war offenbar so üblich auf Friedhöfen. Sie nahm ihren Hut ab. Ihre schönen Augen. Immer noch keine einzige Falte. Eine blonde Schönheit. In Trauer.
«Nicolas. Es ist entsetzlich.»
«Kopf hoch, Véro... Benötigen Sie denn irgend etwas?»
Schon war mir danach, mich zu verdrücken, davonzurennen.
«Nein, aber ich danke Ihnen. Die Familie ist ja da. Man könnte meinen, man wär in irgendeinem Aznavour-Lied.»
Sie lächelte.
«Doch ich wollte Ihnen etwas sagen. Es hat zwar keine Bedeutung, ist aber irgendwie sonderbar. Vor fünf Tagen, nur eine Stunde vor seinem Herzschlag, hat Lionel mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Irgendwas Unverständliches. Mein Anrufbeantworter ist halb kaputt oder das Band muß verschmutzt sein oder was weiß ich... Das einzige, was ich verstanden hab, war irgendwas wie: Man müßte mit Nico drüber reden, der sicherlich wüßte...»
«Sind Sie da sicher?»
«Absolut. Ich kann’s nicht beweisen, ich habe das Band gelöscht, ich konnte ja nicht ahnen... aber ich bin mir ganz sicher.»
Die anderen folgten fünf bis sechs Meter hinter uns. Da war ich nun auf der Beerdigung eines alten Kumpels, und dessen wunderschöne Witwe machte mich mit irgendwelchen absonderlichen Mutmaßungen konfus. Lionel... mit dem hatte ich schon sechs Monate lang keinen Kontakt mehr gehabt.
«Hat er wirklich Nico gesagt?»
«Bestimmt. Pico war’s nicht, da bin ich sicher. Ich sag das nur, weil er einen Typ kennt, der Picaud heißt. In dem Moment hab ich nicht drauf geachtet, aber später ist mir das komisch vorgekommen, vor allem wo Lionel nie zu solchen Partys ging, ich meine zu solchen wie die, auf der er gestorben ist. Eigentlich verabscheute er Konzeptkunst, Installationen und so was... Er hatte mir nichts davon erzählt, hat mir nicht mal Bescheid gesagt, ich begreif nicht, was er da wollte...»
«Mhm... aber jetzt mal nichts überstürzen. Sicher kannte er noch irgendwelche anderen Nicolas außer mir.»
«In seinen Papieren, seinem Terminkalender, seinem Adreßbuch und so habe ich bloß einen einzigen gefunden: dich.»
Da haben wir’s, dachte ich. Jetzt verheddert sie sich in den Dus und Sies. Normal. Witwe und seit kurzem monomanisch. Eine Trauerarbeit, die mit einer milden Paranoia beginnt.
Lionels Kinder und die Angehörigen haben uns daraufhin eingeholt. Präzises Timing. Véronique hat mir einen jener flehentlichen Blicke zugeworfen, wie man sie in den Filmen à la Gilles Grangier zu sehen bekommt, nebst einer Witwe in Hut und Kostüm, feuchten Augen unterm Schleier und dem Dekolleté, aus dem weiße Tauben entweichen.
«Nicolas, ich bitte Sie. Kommen Sie morgen zu mir, so gegen fünfzehn Uhr. Es ist wirklich wichtig. Geht das?»
«Ich denke, ja.»
Sie hat mir noch den Arm gedrückt und sich von denen ihrer Familie, diesen aufmerksamen und entschiedenen, mitziehen lassen. Sie gingen zu schnell für mich, und bald sah ich sie in einem rechtwinkelig abbiegenden Gang verschwinden. Also habe ich mir Zeit gelassen, mein Kopf war ein wenig leer, zuviel Grün überall, und dann haben sich auch wieder die letzten Tage aufgedrängt, der Job, die Karre und alles andere. Blödheiten eben.



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