Programm Kriminalromane

Schlangenbrut

Dessaint, Pascal

 

 

Jaques Lafleur war kein Name der Vorsehung. Jaques mochte Blumen nicht besonders, genau genommen waren sie ihm gleichgültig, auch wenn sie in diesem Fall ein treffender Indikator seiner psychischen Verfassung waren. Sie war schlecht.
Jaques betrachtete die Dornensträucher. Es war Zeit, daß er etwas tat. Seine Hände gebrauchte. Sich beschäftigte. Egal womit. Er warf einen Blick in Richtung der Fenster, und es schien ihm, als hätte sich ein Vorhang bewegt. Pure Einbildung.
Jaques lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Ranken, die ein unentwirrbares Geflecht bildeten. Es war nicht mehr möglich, den Garten zu durchqueren, ohne sich die Beine an den dicken Dornen zu zerschrammen. Eines Abends hatte Jaques dort auf der Terrasse gesessen und ein Geräusch gehört. Anfangs hatte er an eine Katze gedacht, aber kurz darauf war ein Igel zum Vorschein gekommen. Das Tier war gut genährt, unerschrocken. Am späten Nachmittag hatte es stark geregnet, und Jaques hatte ihn danach getauft: Orage – Gewitter. Was würde Orage denken? War dieses Dornengestrüpp nicht die ideale Zuflucht für ihn? Orage war auf der Terrasse Zickzack gelaufen, ohne ihn auch nur wahrzunehmen und dann in einen anderen Garten verschwunden.
Konnte man Jeannes Garten überhaupt noch als solchen bezeichnen? Beim Gedanken an Jeanne dachte Jaques an einen Leuchtturm auf feindlichem Gebiet. Jeanne, einer der Gründe für sein Desaster. Jeanne, ein sicherer Hafen zunächst, dann die reinste Qual.
Was für eine irrwitzige Idee Jeanne gehabt hatte! Vor einigen Jahren hatte sie beschlossen, den Garten neu zu gestalten. Sie war noch gut bei Kräften. Sie hatte die Erde umgegraben. Sie hatte Bäume und Sträucher ausgerissen. Jeanne wollte einen schönen Rasen. Und dann eine Gartenlaube, an der Brombeeren wachsen sollten. Sie liebte diese Früchte, zog ihren Geschmack dem der Himbeeren vor. Sie hatte die Sträucher nach allen Regeln der Kunst anspaliert. Aber dann...
Fortan, je nach Jahreszeiten, den größten Teil des Tages der prallen Sonne ausgesetzt, hatten die Stecklinge, die sie ursprünglich gesetzt hatte, sich im Laufe der Zeit durch natürliche Ableger vermehrt und ihre dornigen Tentakeln in alle Richtungen ausgestreckt, bis schließlich ein undurchdringliches Dickicht entstanden war. Auf diese Weise hatten sie den ganzen Garten eingenommen und sobald sie die Einfriedung erreicht hatten, die ihn abgrenzte, waren sie noch dichter geworden, waren in den Himmel gewachsen und in die Breite gegangen und hatten sich hoffnungslos ineinander verschlungen. Die Gartenlaube war schon lange nicht mehr zu erkennen, im Winter ließ sich das Dach gerade noch erahnen.
Jaques hatte diese Brombeerranken monatelang vor Augen gehabt, ohne daß sie ihn gestört hätten. In seinem Zustand hätte er sowieso nicht gemerkt, wenn der Boden unter seinen Füßen nachgegeben hätte, wenn ihm der Himmel auf den Kopf gefallen oder was immer sonst für eine Schweinerei eingetreten wäre, die das Leben für ihn noch bereithalten mochte. Einzig der Bewegungsdrang, das Bedürfnis, seine Hände zu gebrauchen – bestimmt nicht der Wunsch, Jeanne einen Gefallen zu tun – bewirkten, daß er sich jetzt darum kümmerte. Damit würde er für ein paar Tage die Zeit totschlagen. Das Gestrüpp mußte tief an den Wurzeln gepackt werden. Er würde Handschuhe brauchen, einen Spaten, eine Gartenschere. Sicher würde er diese Dinge in der Garage finden. Er würde sich nicht damit aufhalten, die Früchte zu pflücken, die noch nicht in der Sonne verdorrt waren. Dieses Jahr waren fast alle Beeren entweder der Sonne oder den Vögeln zum Opfer gefallen, wie dieser frechen Grasmücke, die direkt vor seiner Nase die Beeren verschlang. Jaques konnte ihr nicht sehr gefährlich erscheinen.
Kannte er die Heilkraft dieser Pflanze überhaupt? Hätte er sie gekannt, hätte Jaques sein Vorhaben vielleicht auf später verschoben, willensschwach wie er war. Er hätte einen ausreichenden Vorwand darin gefunden. Er hätte seine Schritte nicht plötzlich in Richtung Garage gelenkt. Er wäre vielleicht nicht gestorben. Oder nicht auf diese Weise.
Die adstringierende Eigenschaft der Brombeere hat eine wohltuende Wirkung auf die Schleimhäute. Wirksam gegen Hautflechte, Akne, Ekzem oder auch Furunkeln, ist sie ebenfalls ein bewährtes Mittel bei der Behandlung des Trippers. Schon der griechische Arzt Dioskurides empfahl sie zur Anwendung bei Darmträgheit und Gebärmuttersenkung, zur Festigung des Zahnfleisches, zur Behandlung von Geschwüren oder der Schmerzlinderung von Hämorrhoiden. Jaques hatte keine Ahnung von derartigen Eigenschaften. Dafür kannte er eine italienische Legende. Der Legende zufolge hatte die Brombeerfamilie früher eine Herberge geführt, aber so vielen Reisenden Kredit gewährt, daß sie den Laden dicht machen mußten. Seitdem postierten sie sich an Wegen und Kreuzungen und krallten sich alle, die vorüberkamen, mit ihren gefürchteten Dornen, damit sie bar bezahlten. Jaques hatte schon bar bezahlt.
Wie erwartet fand Jaques alles, was er brauchte, in der Garage. Er ölte die Gartenschere, zog Stiefel an und streifte eine Joppe über – mottenzerfressen zwar, aber sie würde einen guten Schutz abgeben –, auch Handschuhe, und ergriff dann einen Spaten.
Als er wieder auf der Terrasse stand, fragte er sich trotz allem, ob er es nicht sein lassen sollte. Er kehrte dem Haus den Rücken zu. Er musterte die Dornensträucher. Wo anfangen? In der Mitte vielleicht. Eine Bresche schlagen. Zur Mauer dahinter vordringen. Mechanisch betätigte er die Schere, wie um sich warmzumachen. Dann verbreiterte er die Schneise, Schritt für Schritt. Nach und nach würde er in der Mitte des Gartens Haufen zusammentragen. Später, wenn die Zweige ein wenig trockner wären, würde er sie verbrennen. Wenn er es jetzt machte, riskierte er, daß er die Kontrolle über das Feuer verlor und es sich auf die angrenzenden Grundstücke ausbreitete. Es war Spätsommer und es wehte eine leichte Brise. Und dann würde Orage sterben. Der Igel bedeutete ihm mehr als Jeanne. Die Grasmücke für ihren Teil würde davonfliegen, sie würde woanders etwas zu picken finden.
Hätte er es sich anders überlegt, der Antriebslosigkeit nachgegeben, die sein Verhalten seit so vielen Monaten bestimmte, oder auch nur ein paar Sekunden gezögert, bevor er begann, die Brombeeren zu beschneiden, hätte er sicher gehört, wie jemand das Tor öffnete und den Weg hinaufkam, der am Haus entlangführte.
Jaques war ganz in seine Arbeit vertieft. Der Schweiß trübte seine Sicht. Seine Muskelkraft ließ nach und die Arme schmerzten bereits ein wenig. Jemand legte eine Hand auf seine Schulter.



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