Programm Kriminalromane

Chroniques

Manchette, Jean-Patrick

Wahrheiten, die nicht untergehen – Die «Chroniques» von Manchette sind endlich da


Jetzt sind sie da, die «Chroniques». Zwischen 1976 und 1994, dem letzten Jahr vor seinem frühen Tod im Alter von 52 Jahren, verfasste Jean-Patrick Manchette etliche hundert Bemerkungen, Kritiken, Glossen zum Film und zum Polar, wie der Kriminalroman auf Französisch genannt wird. Vieles in diesem Buch, das wohl nur die hartgesottenen Krimileser ansprechen wird, ist Zeitgeschichte, zeitgebunden im mehrfachen Sinn. Keiner wusste das besser als Manchette selbst: «Wenn der Roman noir etwas mit der Wahrheit zu tun hat (und


wenn nicht, taugt er nichts) geht er unter wie sie.» Perlen wie diese findet man zu Hauf, Manchette war nicht nur als Autor, sondern auch als Kämpfer ein großer. Lest ihn, gönnt euch jeden Abend einen «Handkantenschlag» – das bedeutet «Manchette» nämlich auch.


Tobias Gohlis /ARTE, Krimiwelt

 



 

In Frankreich wurde und wird der Mann als Mensch gewordener Krimigott verehrt, in anderen Ländern blieb der vor elf Jahren verstorbene Jean-Patrick Manchette immer ein «writer's writer», ein Tipp, nur für Eingeweihte. Daran wird sich auch mit diesem Werk, das die zwischen 1976 und 1995 entstandenen Essays zum Roman Noir sammelt, nichts ändern. Auch wenn Manchettes Erkenntnisse meist überaus klug sind, auch wenn er formulieren kann, wie kein anderer, auch wenn seine Thesen oft eine sehr schräge, interessante Blickrichtung einnehmen und er auf wunderbare Art politische und kulturelle Zusammenhänge erklärt, Manchette passt so gar nicht mehr in unsere Zeit. Heutzutage dominieren banale Moralisten oder schlecht gelaunte Lesben die Krimiszene, da hat ein Mann wie Manchette, ein Mann, der von der undogmatischen Linken kommt und den Kommunismus mit all seinen Sauereien aus tiefsten Herzen hasst, nichts zu suchen. Liest man diese Texte – aber auch seine Romane – heute, fällt das Fehlen Manchettes noch viel stärker auf. Denn tragischerweise hat er auch in Frankreich keine Nachfolger. Jean-Christoph Grangé hätte einer werden können, aber der hat leider mehr als nur zwei Schrauben locker. Manchette war einfach der ideale Schriftsteller und Kritiker: klug, faktenreich, humorvoll.


Lutz Göllner, ZITTY




 

»Chroniques

Manchette, Jean-Patrick

Rezension von Claus Kerkhoff

 

Jean-Patrick Manchette ist vor allem bekannt als Schriftsteller, Drehbuch-Autor und Übersetzer. Er war der große Erneuerer des französischen Kriminalromans und die Leitfigur für eine neue Generation französischer Kriminalautoren. Seine im DistelLiteraturVerlag erschienenen Kriminalromane sind Leckerbissen für Fans des Hard-boiled-Romans. Aber Manchette war darüber hinaus auch ein begeisterter Leser von Kriminalromanen und ein engagierter Kritiker. Davon kann man sich in dem wunderschönen Band «Chroniques. Essays zum Roman Noir» (DistelLiteraturVerlag, ISBN 3923208782) überzeugen, der die Krönung der Manchette-Werkausgabe im DistelLiteraturVerlag darstellt.

 

«Wie alle Liebhaber habe ich mich daran gemacht, seltene Perlen zu suchen: Man wählt die Bücher nach dem Übersetzer aus, oder man sucht systematisch nach den Autoren, die nur ein oder zwei Bücher geschrieben haben und findet so den klasse Roman ‹À nos amours (OT: Bodies are Dust, dt. Geißel der Niedertracht)› von P.J. Wolfson oder die beiden Paul Cain, ‹À tombeau ouvert (OT: Fast One, dt. Null auf hundert)› und ‹Sept tueurs (OT: Seven Slayers, dt. Totschlag)›, oder «Je suis un sournois (OT: Sweet Cheat)» von Peter Duncan, der an einen optimistischen Jim Thompson erinnert, und Stephen Geller, Edmund Naughton, Peter Loughran, ‹Le Grossium (OT: Gascoyne)› von Stanley Crawford etc. etc.»

 

Von 1976 bis kurz vor seinem Tode 1995 schrieb Manchette regelmäßig Beiträge in renommierten Fachpublikationen. Hunderte von Autoren und Büchern zählt Manchette in den «Chroniques» auf. Seine Rezensionen sind scharfsinnig und oft schneidend. Manchmal zerreißt er Autoren mit bösen, bissigen Kommentaren:

 

«Demjenigen, der ganz einfach kalibrierten Ramsch fabriziert (ich denke an [James) Hadley Chase, der so produktiv und geschickt in aller Ruhe seine Masche abspult und ununterbrochen und in Massen fünf oder sechs immer gleichbleibende Modelle reproduziert], fehlt etwas, ebenso demjenigen, der seinen eigen Text als einfache Lesemaschine betrachtet. Ich pfeif auf deine Maschinen! Entweder der Text ist berauschend, oder er ist nichts. Da hast du’s, ätsch, ätsch.»

 

«Ehrlich gesagt, sind selbst die vulgären Geschäftsleute wie James Hadley Chase oder Mickey Spillane im Grunde etwas ganz anderes als Huren (...). Mögen die Schriftsteller auch böse, rassistisch, sexistisch oder sadistisch sein, das hindert sie nicht daran, Schriftsteller zu sein. (...) Man ist deshalb aber nicht gezwungen, sie zu bewundern oder sie zu lesen.»

 

Er lobt aber auch überschwänglich und verschont trotzdem keinen in seinen Augen lesenswerten oder gar hervorragenden Romane mit punktueller Kritik, denn «es gibt stets etwas zu verbessern, nichts ist perfekt.» Aber seine Texte sind auch stets humorvoll und voller Selbstironie:

«Das sind zwei Bücher (von Pierre Siniac: ‹La Câline inspirée›, 1981 und ‹Monsieur Cauchemar›, 1960), die ganz einfach Lust machen, ihren Autoren auf Händen zu tragen und anschließend mit ihm anzustoßen.»

 

Manchette war ein dezidierter Gegner der politischen Rechten. Und doch gar nicht so überraschend, wird der rechtsintellektuelle Autor A.D.G. (Pseudonym von Alain Fournier) mit einem (allerdings eingeschränkten) Lob überschüttet:

 

«Hier haben wir einen äußerst kohärenten, runden exzellenten Roman (‹Pour venger Pépère›, 1971). … Als nationalistischer und reaktionärer Autor bewahrt und belebt ADG inmitten eines oft von der Linken vereinnahmten ‹Néo-Polars› die Tradition von Albert Simonins und San Antonios wieder. … Außerdem wird die Aversion, die ich gegen ADGs Ansichten hege, und darauf kann ich mich verlassen!, mich immer daran hindern, seine Romane voll und ganz genießen zu können. Aber hier ist ein Autor, der sich stark entwickelt, seine Sache immer besser meistert.»

 

Denn für Manchette zählte nicht die politische Richtung eines Romans, sondern seine Maxime war die Qualität des Handwerks. Deshalb überschüttete er Romane von linken Autoren, denen seine Romane scheinbar Vorbild waren, mit ätzender Kritik:

 

«Viele der Neuerscheinungen werden von manchen (und von mir zuerst) als Néo-Polars bezeichnet und gelegentlich wegen ihres Inhalts mit meinen Schmökern verglichen, weil darin Pfaffen, Bourgeois und Bullen getötet werden, und weil die Bösen darin Baulöwen, Industrielle usw. sind. Schön, es handelt sich um ‹linke› Bücher mit einer unmissverständlichen Botschaft; aber ein Buch ist nicht deshalb gut, weil es eine linke Botschaft hat.»

 

Manchette warnte auch (1994) vor der Unsitte der «political correctness». Für ihn war dieses eine neue Art von Zensur, eine selbsterzeugte Zensur. Zwar seien davon nicht Romane «unmittelbar bedroht, aber sie werden mittelbar von allem bedroht, was die Sprache herabwürdigt. Zwischen dieser Art von Säuberung und der Umweltverschmutzung durch die Medien sieht man den Moment kommen, in dem die Romane so geschrieben werden, wie im Fernsehen gesprochen wird. Man sieht diesen Moment in einer sehr nahen Zukunft. Sagen wir um 1980.»

 

Diese Prophezeiung ist eine für Manchette typische Ironie. Für ihn war das Jahr 1980 ein besonderes Jahr. Von 1971 bis dahin hatte er jährlich einen Roman, also neun seiner insgesamt zehn Kriminalromane, veröffentlicht («La position du tireur couché» erschien zwar erst 1982 in Buchform, war aber bereits als Feuilleton ab 1980 in der Zeitschrift Hara-Kiri erschienen). Doch 1980 begann das große Schweigen des Manchette. Er stellte die Produktion weiterer Kriminalromane ein. Manchette selbst sagte über die 80er Jahre, er habe den Eindruck, mit «La position du tireur couché» an einem Punkt in Schreiben und Geschichte angekommen zu sein, an dem sich seine literarische Ausdrucksform, der «néo-polar», ebenso wie die Sicht- und Lebensweise der Menschen so verändert hätten, dass ein Fortsetzen der Polar-Produktion nur Wiederholungen und Imitationen bereits existierender Werke hervorbringen könne.

 

Aber Manchette war ein manischer Arbeiter und stürzte sich deshalb in Übersetzungen verschiedenster amerikanischer Autoren, wie Donald E. Westlake und Ross Thomas sowie in Buchbesprechungen. Insbesondere Westlake hatte es Manchette angetan. Westlake war für ihn ein Meister des Roman noir, «zweifellos der größte seiner Zeit.» Es waren auch die Romane Westlakes, die Manchette zu seinem ersten Kriminalroman: «Laissez broncher les cadvres!» (zusammen mit Jean-Pierre Bastid) inspirierten und der im Januar 1971 in der renommierten Série Noire bei Gallimard erschien. (Die Neuübersetzung dieses Romans ist für 2006 geplant, womit die Werkausgabe der Kriminalromane Manchettes komplett wäre.)

 

 

«Alles, was Westlake unter verschiedenen Identitäten geschrieben hat, ist gut, und fast alles ist besser als gut. Wenn ihr nicht alles habt, geht zu eurem Buchhändler, befragt seine Kataloge, bestellt, lest. Das wär’s.»

 

In seinen Rezensionen reihte Manchette nicht einfach die verschiedenen Romane aneinander, sondern er nutzt diese Besprechungen, um an seiner Theorie des Roman Noir weiter zu arbeiten.

 

«Da ich vom amerikanischen Polar vollkommen eingenommen war, hingegen überhaupt nicht von den französischen Autoren, schien es mir ganz natürlich, ja selbstverständlich, dem Weg der ‹kritischen Realisten› zu folgen. Für mich war der Polar immer – und ist es noch – der Roman der sehr harten gesellschaftlichen Einmischung.»

 

«Es gab eine Epoche des amerikanischen Polars. Anfang der 70er zu schreiben, bedeutete, einer neuen sozialen Realität Rechnung tragen zu müssen, aber auch der Tatsache, daß die Form des Polars überholt, weil seine Zeit vorbei ist: Eine überholte Form wiederzuverwenden heißt, ihr Bezugssystem zu verwenden, das bedeutet, sie zu ehren, indem man sie der Kritik unterzieht, sie übertreibt, sie bis zum äußersten verdreht. Ja, selbst sie zu respektieren, heißt noch, sie zu verdrehen. Das versuche ich in meinem nächsten kleinen unbedeutendem Werk: sie über die Maßen zu würdigen, die Form des Polars 200-prozentig zu respektieren.»

 

Manchette erneuerte in seinen Romanen und seinen Essays den Polar als sozialkritische Literatur oder als «Roman der sehr harten gesellschaftlichen Einmischung». Darin kommen seine politischen Überzeugungen, aber auch seine von Skepsis geprägte Philosophie zum Ausdruck. Er beklagte die Chancenlosigkeit des Individuums in einer kapitalistischen Gesellschaft und die Vergeblichkeit des Aufbegehrens. Deshalb sind seine Figuren auch durchweg Anti-Helden. In «Die Affäre N’Gustro» ist es ein aus einer bürgerlichen Arztfamilie stammender junger Mann namens Henri Butron, der aus Langeweile und Opposition sich der politischen Rechten anschließt; in «Tödliche Luftschlösser» der Magengeschwür-geplagte Profikiller Thompson, der glaubt einen einfachen Mordauftrag erhalten zu haben; in «Volles Leichenhaus» und «Knüppeldick» der Ex-Gendarm Eugène Tarpon, der bei einer Arbeiterdemonstration einen Menschen tötet, den Dienst quittiert und sich jetzt als Privatdetektiv mit kleinen Aufträgen mehr schlecht als recht über Wasser hält; und in «Westküstenblues» der leitende Angestellte Georges Gerfault, den plötzlich zwei Killer jagen. Manchettes Figuren ist gemeinsam das Fehlen von Idealen und damit von Identität sowie das Durchleiden einer existentiellen Krise. Ihre Bemühungen sind ausnahmslos zum Scheitern verurteilt.

 

In Manchettes Romanen ist die Welt voller Verzweifelung darüber, dass die Hoffnung auf eine bessere Welt eine hoffungslose Sache geworden ist. Deshalb gibt es keine Erlösung, sondern nur Gewalt und Tod. Seine Romane sind die Antwort auf die klassischen Detektivgeschichten, in denen mittels Aufklärung des Verbrechens und Bestrafung des Täters die Welt wieder in Ordnung gebracht wird. Manchette entlarvt dieses Nachher als Scheinordnung. Für ihn ist die Welt ein Rattennest und als Ganzes nicht zu retten. Diese Motive sowie sein erzählerischer Reduktionismus, die knappen Dialoge, die kurzen Sätze und der hintergründige Humor schufen – an die Tradition von Chandler und Hammett anknüpfend – eine moderne, auf Europa zugeschnittene Form des amerikanischen Hard-boiled-Krimis. So wurde Manchette zu einer Leitfigur für eine neue Generation französischer Kriminalautoren.

 

Untrennbar mit seinen Romanen, Drehbüchern und Übersetzungen sind seine Arbeiten als Rezensent verknüpft. Seine Essays sind engagiert, flott geschrieben, manchmal zynisch, manchmal hymnisch. Jeder Zeile ist seine Liebe zum Polar anzumerken und seine Kommentare zeugen von einem tiefen Verständnis und einer großen Meisterschaft. Aber auch von dem Leiden, das andere Autoren ihr Handwerk so schlecht beherrschen. Er ist nicht dogmatisch, kann auch zugeben, sich in der Beurteilung eines Autors (wie z.B. Ross MacDonald) geirrt zu haben und das macht ihn glaubwürdig.

 

Zugegeben, 32€ sind ein stolzer Preis, trotzdem sind die «Chroniques» jeden Cent wert – nicht nur für Liebhaber des Roman noir!!!

 

 

 

 



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