Programm Allgemeine Belletristik

Drei rote Vierecke auf schwarzem Grund

Benacquista, Tonino

 

 

Zur Zeit schlafe ich nicht erholsam, vielleicht wegen des Bettzeugs. Mit meinem heutigen Lohn werde ich mir eine neue Matratze leisten können. Die Galerie hat gerade aufgemacht, Liliane ist taufrisch. Es ist ja auch bereits elf Uhr.
«Jacques ist schon um neun vorbeigekommen. Er läßt dich herzlich grüßen.»
Halbwach setze ich mich an den Empfangstisch, auf dem noch eine leere Champagnerschale rumsteht.
«Ist es spät geworden?»
«Mitternacht», sagt sie. «Ein irrer Betrieb. Und bei dir, wieviel Uhr war’s da? Nach deinem Gesicht zu schließen, hast du ordentlich einen draufgemacht?»
Als einzige Antwort gähne ich.
«Ich hab deinen Lohnzettel schon vorbereitet, brauchst nur noch die Stunden zu überprüfen, dann laß ich ihn von der Coste abzeichnen. Und wenn der Antoine seine Kohle in der Tasche hat, dann verschwindet er auch schon wieder, und man sieht ihn nicht mehr bis zum Abhängen, oder?»
Es stimmt, daß ich zwischen Auf- und Abbau einer Expo niemals den Fuß hier hineinsetze. Jacques hingegen kümmert sich um die Betreuung, einmal die Woche.
«Wem gehören die Werke eigentlich?» frage ich.
«Dem Nationalen Kulturbesitz. Morand hat eine Schenkung an den Staat gemacht.»
Dem Nationalen Kulturbesitz... Uns allen also. Mir auch ein bißchen. Coste hat uns erklärt, sie sei Morand nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten begegnet, und dessen Arbeit habe ihr sehr gefallen. Sie legte großen Wert darauf, diese Retrospektive zu veranstalten.
«Das Kulturministerium hat die Werke für einen Monat ausgeliehen», meint Liliane. «Nach dem Abhängen wandern sie allesamt wieder ins ‹Depot›. Das Depot magst du doch gern, nicht Antoine?»
Sicher mag ich das. Ein gigantisches Vorratslager, in dem ein Teil des Kulturbesitzes gehortet ist. Dort arbeite ich im Sommer, wenn die Galerie geschlossen ist, in der Saurengurkenzeit. Die Coste hat mich empfohlen, damit ich diesen Job bekam.
«Wann ist übrigens die nächste Expo?»
«Am 22. März, ihr werdet vier Tage Zeit zum Aufbauen haben. Und wenn man sich die Werke so ansieht, wird das ’ne ziemlich Plackerei.»
«Was sind das für Dinger?»
«Installationen, Objekte auf Sockeln.»
Keine gute Nachricht... Ich befürchte das Schlimmste. Ich habe einen Horror vor so was: Objekte, afrikanische Statuetten mit Walkmen, Zahnbürsten auf Hohlblocksteinen, Basketbälle in Aquarien und anderes Zeug. Das ist die Post-Emmaus-Strömung. Seit drei Jahren hat sich die zeitgenössische Kunst angeschickt, dem Trödelhandel Konkurrenz zu machen. Das ist der Kult des «Practico-Inerten». Man betrachtet einen Büchsenöffner auf einem Sockel, und man stellt sich all die Fragen, die man sich in der eigenen Küche nie stellen würde. Meinetwegen... Wir haben noch längst nicht ausgelacht, Jacques und ich. Wie viele Male habe ich Besuchern schon geantwortet, daß der Aschenbecher und der Schirmständer nicht zu den ausgestellten Werken gehören.
«Kannst du mal ein Viertelstündchen auf den Laden aufpassen. Ich komm dann mit deinem Scheck zurück.»
Das übliche Prozedere. Ich spiele ganz gern den Museumswächter, das macht mich sanft wach. Tatsächlich aber verbirgt sich dahinter eine Arbeit für Titanen. Dabei bedarf es einer wahren Wissenschaft der «Inertie». Über Museumswächter macht man sich immer lustig, ständig fragt man sich, woran denken die nur; man erzählt, die wären in ein Werk verliebt und würden ihren ganzen Arbeitstag damit verbringen, sitzend vor sich hin zu dösen, dreißig Jahre lang, der Blick leer und starr zugleich auf das immer gleiche Stilleben geheftet. Meistens ein gerupfter Fasan und zwei schön reife Äpfel in einem Weidenkorb. Hier aber wären das eher ein Weidenfasan und ein schön reifer Korb auf zwei gerupften Äpfeln.
Aus Neugier richte ich meinen Blick auf das Goldene Buch, um die gestern abend von den Gästen hinterlassenen Loblieder, Beschimpfungen und Kritzeleien zu lesen. Wenn man diese Liste gleich am Morgen nach der Vernissage überfliegt, weiß man sofort, ob die Expo laufen wird oder nicht. Und was die Retrospektive Morand betrifft, so sieht es ziemlich trübe aus. «Nullismus, und wer zahlt? Der Steuerpflichtige!» oder auch «Sehr schöne Ausstellung. Bravo!» oder «Soviel kann ich auch, und hier ist meine Adresse...» oder sogar «Dreißig Jahre Rückstand. Das Zeitgenössische hört nicht mit den Sechzigern auf!»
Ich mag diese dicke weiße Schwarte ganz gern, sie ist die einzige Möglichkeit für das Publikum, ob anonym oder unter eigenem Namen, eine Meinung über das abzugeben, was es soeben gesehen hat. Die «Expo Morand» wird keine zehn Besucher pro Tag anlocken. Obwohl die Leute sich schon bewußt sind, ein Risiko einzugehen, wenn sie eine Galerie für moderne Kunst betreten, die erwarten ja nicht unbedingt, Schönes, Properes zu sehen. Sonst würden sie in den Louvre gehen. Und diejenigen, die wie ich keine große Ahnung von all dem haben und die dennoch drei kleine, doch keineswegs schüchterne Schritte auf etwas zuwagen, zu dem der Zugang wohl der schwierigsten einer ist, die haben dann auch das Recht, ein Wörtchen in dieses Goldene Buch zu kritzeln.
Ein Typ kommt herein und lächelt.
«Darf man sich umsehen?»
«Ja.»
«Kostenlos?»
«Ja. Nur zu.»
Er wirft nicht mal einen einzigen Blick auf die Skulptur im Eingangsbereich und verdrückt sich in einen der Säle. Ziemlich schnell, der Bursche. Er trägt die gesamte Ausstaffierung des Gentleman-Farmers, wenn ich Kohle hätte, würde ich mich auch so anziehen, Anzug mit Fischgrätenmuster, sicherlich ein Harris tweed, beigefarbenes Hemd, Krawatte in einem schillernden Braun, und ein zerknautschter Burberry’s über der Schulter. Bei meinem nächsten Lohn werden wir sehen...
Wenn Liliane doch auf die tolle Idee käme, mit einem Kaffee zurückzukommen... Ich würde dann in Topform mit meinem Scheck und einem langen Nachmittag «Dolcefarniente» in Aussicht wieder abziehen. Um die Langeweile zu vertreiben, nehme ich einen Katalog zur Hand und blättere ihn auf der Suche nach der Biographie des Malers durch.
«Étienne Morand wird 1940 in Paray-le-Monial (Bourgogne) geboren. Nach dem Besuch der École des Beaux-Arts geht er 1964, von der Bewegung des Abstrakten Expressionismus angezogen, nach New York. Sein besonderes Interesse gilt dabei den Techniken...»
Ich höre mit einem Schlag auf zu lesen.
Ein Geräusch...
Irgend etwas hat da geknistert.
Liliane kommt noch immer nicht zurück.
Vielleicht ist es ja nichts Besonderes, ein gerade durchschmorender Spot oder ein Drahtseil, das unter dem Gewicht eines Gemäldes nachgibt, trotzdem bin ich gezwungen aufzustehen. Unter Umständen war es auch die-ser Besucher von eben, der wie viele vor ihm versucht, die Ausrichtung eines Rahmens zu korrigieren und mit dem Daumen etwas nachgeholfen hat. Falls dem so ist, wer-de ich anschließend mit der Wasserwaage durchgehen müssen.
Ich muß also eine kleine schnelle Runde durch den hinteren Saal machen, unauffällig, obwohl ich es schrecklich finde, den Argwöhnischen zu mimen. Je weiter ich komme, desto lauter wird das Knistern. Ich komme in den Saal, und der Typ dreht sich um. Ich stoße einen Schrei aus...
«Aber...!!! Sie... Sie sind...»
Ich suche nach einem passenden Wort, einer Beschimpfung vielleicht, weiß aber nicht, was man in solchen Fällen sagt...
Der Mann setzt einen letzten Schnitt mit dem Cutter, um das Bild vollständig aus dem offenen Rahmen zu lösen. Das gelbe Bild.
Ich stammele, flüstere irgendwelche Wörter, die mir ihm Hals steckenbleiben.
In aller Ruhe beendet er seine Arbeit.
Ich möchte den Abstand zwischen uns verringern, doch ich kann nicht mal den kleinsten Schritt tun, ich trete vor einer unsichtbaren und unüberwindlichen Wand auf der Stelle.
Schiß...
Zweimal beuge ich mich nach vorn, ohne die Beine bewegen zu können, ich müßte ein Loch in diese Mauersteine stemmen, aber meine Sohlen bleiben wie festgenagelt. Auch er kommt nun aus dem Konzept, zerknittert das Gemälde und schafft es lediglich, es wütend unter seinen Burberry’s zu zerknüllen. Um hier herauszukommen, muß er entweder durch mich hindurch, an mir vorbei oder mich umrennen, er zögert, dieselbe Wand hält ihn davon ab, eine Initiative zu ergreifen, er schüttelt den Kopf und hebt drohend den Cutter.
«Gehen Sie zur Seite... Mischen Sie sich nicht ein!» schreit er.
Ich kann mich nicht prügeln, ich müßte ihm an die Kehle springen oder aber... oder aber zum Ausgang rennen und die Türen verriegeln... ihn einschließen...
Ich müßte auf ihn zugehen, ihm ja nicht zeigen, daß ich völlig durcheinander, leer bin... Meine Arme sind schwach. Ich habe Mühe, sie über diese Wand aus Schiß zu bekommen.
«Gehen Sie zur Seite... Verdammt noch mal... gehen Sie doch zur Seite!»
Ich habe die Fäuste vor dem Sprung geballt und bin auf ihn losgestürmt, meine Hände haben sich an seinem Kragen festgekrallt, und dann zerre ich wie ein Irrer an ihm, um ihn zu Boden zu reißen, ich falle mit ihm hin, er schlägt um sich, auf dem Teppich kniend kracht meine linke Faust in seine Fresse, ich haue nochmals drauf, ich wende den Kopf ab, und die Klinge des Cutters bohrt sich in meine Wange. Ich brülle auf, löse meine Umklammerung, er rammt mir die Klinge noch tiefer ins Fleisch, und ich spüre, wie mir die Wange bis zum Kieferknochen aufreißt.
Ich habe mich eine Sekunde lang nicht mehr gerührt. Ein Blutteppich hat sich in meiner Kehle ausgebreitet.
Ich schreie.
Blut- und Speicheltröpfchen schießen zwischen meinen Lippen hervor. Und dann erstickt ein ganzer Schwall noch das leiseste Röcheln.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er sich hochrappelt und seinen Regenmantel aufhebt.
Schwerfällig.
Dabei habe ich die Schmerzen vergessen, ein Aufflammen von Wut bringt mich wieder auf die Füße. Er rennt los. Ich ihm nach, chaotisch, die eine Hand auf die Backe gepreßt, um was weiß ich was zurückzuhalten, Blut, das mir auf den Ärmel tropft, Fleischfetzen, ich weiß es nicht, ich sehe nur noch ihn, seinen Rücken, ich laufe schneller und hechte vorwärts, um ihn auf den Boden zu stoßen. Er wirbelt herum und fällt hin, am Fuß der Skulptur am Eingang, er bearbeitet mein Gesicht mit dem Absatz, irgend etwas knackt nicht weit von der Schnittwunde in meiner Wange entfernt, und mein rechtes Auge schließt sich wie von selbst.
Mit dem anderen habe ich noch sehen können, wie er auf den Knien sein Gleichgewicht wiedererlangt und sich an den Sockel der Skulptur klammert. Seine Hand hält sich an einem der metallischen Äste fest, er zieht daran und bringt den gesamten Schrottbrocken zum Schaukeln. Er verpaßt mir einen letzten Tritt ins Gesicht, ich brülle wie ein Tier, ich reiße den Arm vor die Augen und dann wird alles schwarz.
Ich habe mich gezwungen, den Kopf zu heben.
Ich spüre, wie ich davongleite, ganz langsam, auf den Rücken. Ich habe die Ohnmacht wie einen Schluckauf aufsteigen gespürt. Einen einzigen.
Davor aber war da noch diese kleine Sekunde wie in Zeitlupe.
Ich habe alles im selben Augenblick wahrgenommen, die Stille, die Hitze, den Blutschwall auf meinem Oberkörper.
Und diese silbrige Lawine, die auf mich zuzuschwanken beginnt, während ich in die Bewußtlosigkeit eintauche.

 

 



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