Programm Allgemeine Belletristik

In der Hitze von Nizza

Raynal, Patrick

 

 

«Krimitipps Juni 2004: Er ist dick, unglaublich dick: Raymond Matas, Kripokommissar, der in den siebziger Jahren in der radikalen Linken aktiv war. Heute ist Matas ein Flic mit Leib und Seele, einer von der desillusionierten Sorte: Er ist einsam, er säuft, er bewegt sich jenseits jeglicher moralischer Skrupel; einer, der zwar Polizist ist, den aber von den Bösen letztlich nicht viel trennt.
Sein aktueller Fall ist anfangs einer wie viele andere auch: Ein Motorradfahrer mit schwarzem Helm hat einen kleinen Juwelierladen ausgeraubt und den Besitzer, ein kleines, altes Männchen, samt seiner Frau kaltblütig ermordet. Ein Fall, wie er nun einmal vorkommen kann in einer verkommenen Stadt wie Nizza; eigentlich kein Verbrechen, für dessen Aufklärung man sich sonderlich anstrengen müßte, denn der Täter geht der Polizei irgendwann sowieso ins Netz. Aber diesmal ist alles anders, zumindest für Raymond Matas: Der Täter schlägt wieder und wieder zu, bald startet die Zeitung eine üble Hetzkampagne gegen die Ermittler. Der Polizist erfährt zugleich, daß er einen Sohn im Alter des mutmaßlichen Täters hat und der spurlos verschwunden ist. Und irgendwie, so schwant ihm, haben diese beiden Stränge miteinander zu tun. Matas säuft und flucht und leidet; er wütet wie ein Berserker, und seine Arbeit wird immer mehr zur Ermittlung in eigener Sache.
Matas ist ein fetter, müffelnder, konsequent menschenfeindlicher Antiheld – und ein augenzwinkernd konstruiertes Alter Ego seines Erfinders Patrick Raynal. Raynal, dessen Werke bisher nur vereinzelt nach Deutschland gelangten, ist nicht nur als Autor tätig, sondern auch als Herausgeber der berühmten «Serie Noire» im Pariser Gallimard Verlag, der Krimireihe also, von der in den letzten Jahren wesentliche Impulse für die europäische Kriminalliteratur ausgingen. Politisch brisante Themen werden in den Romanen der «Serie Noire» immer wieder mit ästhetisch radikalen Mitteln angegangen, und genau das ist auch bei Patrick Raynals Roman der Fall: Schnell, unerbittlich, grausam und gegen alle Lesererwartungen belegt Raynal mit «In der Hitze von Nizza» einmal mehr, wie die hehren Ideale der 68er-Revolution in der Mühle der Zeit zerrieben wurden – und wie schwer es für die Protagonisten heute ist, angesichts ihres eigenen Versagens so etwas wie Integrität zu bewahren. Raynal selbst kann auf eine illustre Vergangenheit im linksradikalen Milieu zurückblicken, das merkt man dem Roman an, der die typische Handschrift der «Serie Noire» trägt: Er räumt der Lust am Erzählen auf eine absolute, unbedingte Weise Vorrang ein gegenüber Inhalt, Thema und Botschaft. Und das macht diese radikale unterhaltsame Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte für seine Leser zu einem solchen Vergnügen.

Ulrich Noller, funkhaus europa / WDR 



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